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Briefbeilagen

Mit der Kunst des Briefschreibens ist es ja ziemlich vorbei. So wie keiner mehr zuhören kann, sondern den andern nur noch als Wand benutzt, gegen die er monologisiert, so schreiben sich die meisten Leute unsrer Zeit Briefe, die schlechter und unordentlicher sind als Geschäftsbriefe, aber ebenso sachlich. Die Geschichte von dem Aktuar, der seiner Hulda zu wissen tat: »Ich liebe dich leidenschaftlich« und dann das letzte Wort mit dem Lineal unterstrich, ist nur ein spaßiger Einzelfall einer ganzen Epoche des Verfalls der Briefschreibekunst und ihrer völligen Verkennung. Ein Brief soll doch kein Tatsachendokument sein, sondern ein Luftzug, der mich in die Atmosphäre des andern versetzt. Ja, Kuchen! Und was die heutigen Liebesbriefe angeht, so ist das ein eigenes Lachkapitel für sich.

Was an mir des Tages vorbeiläuft, was ich aufnehme – das schreibe ich in die Briefe. Nun gibt es aber manches, das wächst aus dem Brief hinaus, ist ein kleines Ding für sich, ein Geschichtchen oder ein Meditatiönchen, ohne doch etwa ein Kunstwerk zu sein. Und so, zum Beispiel, wie Maler aus ihrem Skizzenbuch manches Blatt herausreißen und in den Brief legen, den sie ihrer Freundin schreiben, so will ich, was ich Dir aufschrieb, Blonde, und was zwischen Brief und Literatur angenehm die Mitte hält, hier aufbewahren. Es ist kein Zufall, dass ich es grade Dir schrieb: denn als ich es erlebte, in all den Tagen, warst Du bei mir.

Im Hinterzimmer

Im Hinterzimmer in der Wohnung des Rumäners, bei dem ich grade wohnte (man sagt nicht ›Rumäne‹, alte Balkanisten sagen Rumäner, femininum die Rumänerin) – im Hinterzimmer also lagen rumänische und französische Bücher, unordentlich in Kästen gepfropft und wild durcheinander. Juristerei und Zeitschriften und Kriminalabenteuer für sechzig Centimes und ›L'Illustration‹, die man hier in vielen Häusern findet und ›Die Kunst, gut zu lieben‹ mit vielen, aber leider sehr harmlosen Bildern (daraus konnte man sie jedenfalls nicht lernen) und vieles andre.

Ich fraß die Bücher. Zuerst meinen geliebten Courteline, den französischen Wied. Etwas habe ich übersetzt, aber die schönsten Sachen kann man ja nicht übertragen. Es geht alles verloren. Wieder Jüngling unten in der Droschke stundenlang von Mama instruiert wird, nun aber ja beim Empfang den feinen Mann zu machen, denn bei diesem Empfang käme es darauf an, und er werde die Auserwählte seines Herzens kennen lernen, das heißt: die von Mama Auserwählte, und die Augen der ganzen Gesellschaft seien auf ihn gerichtet … Aber als er in die gute Stube hereintritt, da fällt er der Länge lang über eine Teppichfalte und sagt etwas, was man aber wirklich nicht übersetzen kann, so wenig fein ist es. Und ich blätterte in den dummen Heften mit den glatten Frauenakten und in den Romanen mit dem ganzen umständlichen Hin und Her der Liebesleidenschaft auf sehr elendem Papier. Und ich las die Kriegszeitschriften.

Ach! wie ist dieser Mist aufgemacht! Tiefdruck, famoses satiniertes Papier, alles hat eine Art splendider Großzügigkeit … Es bereitet eine wohltuende Freude, einmal alles andersherum zu sehen: die französischen Flieger mit den kreisrunden Abzeichen fliegen stolz am Himmel einher, während der Deutsche tief unten entweicht; französische poilus knien auf deutschen Soldaten; Russen stürmen lanzenschwingend auf die Preußen, die die Hände hochheben – das kam mir alles, bis auf die Besetzung, sehr bekannt vor. Und das gleiche empfindsame Mitleiden mit denen, die draußen sind, gespendet von denen, die durch die Spende drinnen sind, und diese bombastischen Worte (einmal, zum Kullern, unter einer Gruppe griechischer Herren aus der Fremdenlegion, also doch wirklich von Leuten, die nur wegen zu schlechten Falschspiels in den Verein gegangen sind: ce sont des héros, qui Homère eût chanté? Siehst Du wohl!).

Aber ich muß doch sagen: mein erster Gedanke war der des Bedauerns. Warum haben wir das nicht? Sie sind so geschickt, und so gemein. Und so wirksam. Sie verkennen allerdings fast den gesamten Tatbestand. Sicherlich laßt sich über deutsches Wesen, an dem einmal die Welt genesen soll, allerhand – wenn auch jetzt nicht – sagen; aber das sind keine Deutschen, diese Bilderbogenboches der französischen Kriegsliteratur, das sind allenfalls Schützenscheiben. Sie sind nicht einmal fähig, einen richtigen deutschen Namen zu erfinden, oder heißen vielleicht unsre Professoren Ferdinand Schmitzmolle? Aber, weißt Du, ich kann mir sehr gut denken, dass von diesen Weisheiten etwas hängen bleibt – wenn sie einem jahrelang so eindringlich eingehämmert werden. Fälschungen (Maurice Barrès gibt angebliche Schwätzereien eines Soldaten mit einer französischen Schwester als ein Dokument aus), Lügen (Zeichnungen werden unter Fotografien geschmuggelt und bilden ein einziges Bildmaterial), Geschmacklosigkeiten (die Karikaturen des Kaisers und des Kronprinzen sind unterhalb jeder Linie) – das ist zwar alles nichts. Aber es wirkt. Aber es ist infam geschickt und gewandt hergestellt. Aber es zieht.

Warum machen wir das nicht? Sie schrecken vor nichts zurück, wenn sie damit irgend einer These, einem moralischen Satz zur Wirkung verhelfen können. Sie haben seit langem erkannt, was bei uns in Deutschland kaum einer weiß und gar keine illustrierte Zeitung: dass man Fotografien nicht mehr ertragen kann, die einfach berichten. Man will Moral in den Bildern, Das Rezept ist so: gegeben ist eine Tendenz, die offensichtlich werden soll. Sagen wir: die Deutschen sind gemeine Mörder. Dann wird dieser Satz an einer scheinbar harmlosen Fotografie demonstriert, an der Hausruine einer pariser Vorstadt, in die eine Bombe fiel – und unter dem Bildchen steht dann: ce que leur ›héros‹ ont fait dans la ›forteresse‹ Paris. Und das vergißt kein Leser. Oder rührsame Zeichnungen von toten Müttern und Kindern in Verbindung mit den deutschen Barbaren (das ist kein Wort von 1914, das lebt heute noch!) – und deutsche Gefangene … Aber hier können wir allerdings nicht mit. Eine solche viehische Roheit, noch mit Zerschossenen und Verwundeten und halbtoten Gefangenen Propaganda für den Kikeriki der Marianne zu treiben, ist leider romanische Politik. Sie sind wie die Weiber, wenn sie hassen. Ich weiß sehr wohl, dass es Zeitungsschreiber und nicht die Soldaten im Graben sind, die das machen – aber wer liest es denn? Hachette wird sein Publikum kennen. Und die andern, die Leute aus dem ›Feuer‹ des kriegerischen Friedensbuches von Barbusse, sind wohl noch dünn gesät.

Sie schrecken vor nichts, aber auch vor nichts zurück. Bis auf die schmierigen Sudeleien: warum wir nicht auch? Warum arbeitet unser Nachrichtendienst nicht im großen Stil mit der Tendenzfotografie wie sie? Warum bearbeiten wir nicht das Ausland wie sie. Warum zeigen wir nicht Ähnliches in unsern eigenen Blättern wie sie? Tausend Beispiele: ein französisches und ein deutsches Badezimmer einer Bürgerwohnung (denn sie verspotten dauernd unsere Zivilisation, nicht nur die Kultur) – der Südfranzose und sein Haustier – der Gegensatz zwischen Hui und Pfui im Leben des romanischen Schiebers … aber dafür gibt es Belege! Hier kann man aggressiv arbeiten. Wir verteidigen uns brav: wir veröffentlichen saubere Statistiken, wie gut unsre Schulen arbeiten, und wieviel Kriegsanleihe wir gezeichnet haben – eine Zeichnung Raemaekers wirft das alles um. So kann man dem Betrachter nicht kommen. Man muß ihn unterhalten, einfangen, packen.

Aber noch schöner wäre es freilich, man hätte das alles nicht nötig, und im Hinterzimmer lägen Bücher, die dem Rumäner förderlicher gewesen wären als dieser Schund. Und das hat wohl noch gute Weile.

Peter Panter
Die Weltbühne, 13.06.1918, Nr. 24, S. 545.

Was wäre, wenn … ?

Im Mai 1914 kritzelte ich diesen Titel in mein Notizbuch – ich wollte eine Phantasie schreiben, wie es aussähe, wenn ein Krieg ausbräche. Das glaubst Du wohl nicht, aber es ist doch gewißlich wahr; es war Zufall (wenn Du willst, kannst Dus auch Ahnung nennen), ich hatte keinen Schimmer von politischem Instinkt und wußte auch gar nichts; es war ein Einfall, aber schade, man hätte davon hinterher viel Freude gehabt.

Nun, heute ist es schon wesentlich leichter, den Titel da oben auf den Frieden anzuwenden; wir haben ja bereits einen Kommissar für Übergangswirtschaft und Demobilisationsoffiziere, und was so in jedem Lande der Kriegführenden getan wird, der Vorsicht halber. Aber wie wird das, zum Beispiel, literarisch enden? Was wäre, wenn … ?

Auf Frieden reimt sich viel. (Siehe Steputats ›Reimlexikon‹, Seite – ich habe meines noch nicht aufgeschnitten, aber dann wirds wohl sein müssen.) Und man wird sehr viel darauf reimen. Alle werden darauf reimen. (Leider auch Gerhart Hauptmann.) Rudolf Herzog in der ›Woche‹ mit einer unsagbaren Zeichnung, Ludwig Thoma im ›Simplicissimus‹ mit einer sehr hübschen Zeichnung (und wenn das letzte Jahr nicht gewesen wäre, hätte man das gerne gesehen); wem Ullstein die zweihundert Mark zukommen lassen wird, ist noch nicht heraus. Aus Prag her wird der dortige liebe Gott, dieses Weltenwunder an weicher Güte, die Hände segnend über die reklamierte Erde strecken und sprechen: »Habe ichs nicht gleich gesagt? Ja, es ist schon ein Paradeis hienieden, und alles, alles ist gut!« Und die ältesten Chefredakteure werden die jungen Dichter zur Verzweiflung bringen, weil sie – lächelnd, schmunzelnd, und in freundlicher Erinnerung an dunnemals, als sie noch jung waren oder doch wenigstens so taten – weil sie diesmal denn doch selbst zur Feder greifen werden, um dem Frieden aber mal ordentlich eins auszuwischen. Und alle Leitartikel an jenem Tage werden mit einem ganz kurzen Satz anfangen: »Wir stehen am Ende.« Es wird Allegorien und Symbole regnen: ich denke nur an Palmen, Täubchen, die Pflugschar (ich glaube, dieses Wort ist nur für diese Gelegenheit erfunden), eine hehre Frau in weißem Gewande – es wird sehr fein zugehen. Und jeder wird sich mit der gepumpten Größe des geschichtlichen Ereignisses nach der Melodie schmücken: Wißt ihr noch, wie lange ihr an den Friedensschlüssen der drei peloponnesischen Kriege gepaukt habt? An so einem komplizierten Ding dürft ihr nun selbst teilnehmen, und ich verkünde es euch. »Ja«, werden dann die Leute sagen, »Friede ist, der Mann hat recht, noch ein Gedicht!«

Und man wird die neu entdeckten feldgrauen Lyriker hören, weil die's doch wissen müssen, und Mäxchen Jungnickel – den kennst Du nicht, das ist auch nicht nötig; hast Du mal das Zeug gegessen, das man so in alten Zeiten an den Weihnachtsbaum hängte? ja, das ganz süße – Jungnickel wird ein Lebkuchenmärchen auf den Frieden dichten, und die andern werden in markigen Rhythmen ihrer Muse kommandieren: »Das Gewehr – ab!« Und es wird ein ganz gemeiner Griff werden …

Und die ›Illustrierte Zeitung‹ wird auf der ersten Seite den Einzug der Truppen durchs Brandenburger Tor abgebildet bringen, und ich habe die Schriftleitungen – mußt Du bei dem Wort auch immer an

›Wasserleitung‹ denken? ich auch – heimlich im Verdacht, dass alle Lokalberichte und Gedichte bereits fix und fertig vorliegen, und kaum ist der Friede da – wupp, heraus mit euerm Flederwisch!

Und Ganghofer – schrieb ich schon von Ganghofer? Also dass der ›Lokalanzeiger‹ den Frieden inter-viewen läßt und beim Nachschreiben kleine Fehler unterlaufen, und dass die Tante ›Voß‹ eine Beilage bauen wird: Was wünschen wir dem jungen Frieden? (wenn ich Friede wäre, ich kehrte glatt um) – das ist ja selbstverständlich … aber Ganghofer!

Stell Dir vor, sie graben Dir das Wasser ab. Nun, Du bist ein Mädchen, Du kannst Dir das vielleicht nicht so vorstellen; also dann denk Dir, alle Deine Felle seien weggeschwommen. Auch nicht? Na, dann imaginier Dir, wie das ist, wenn Ganghofer keine Kriegsberichterstatterartikel mehr schreiben kann, die Zeile um achtzig Batzen – stell Dir vor, wie er dann – noch einmal sattelt mir den Hieroglyphen! – noch einmal, noch einmal alle Kraft und auch den Schmerz zusammennimmt und ein Gedicht veröffentlicht, ein Gedicht –! Es wird anfangen: »Nun, Deutschland, stoß die Scheide ins Schwert –!«

In der Ecke aber sitzt ein gebrochener Mann, Ernst Lissauer, und weint. Heile, heile, Segen! auch deine Konjunktur wird wiederkommen.

Peter Panter
Die Weltbühne, 04.07.1918, Nr. 27, S. 17.