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Bibliothekskadaver

Sauber ausgerichtet stehen die Buchreihen – die Rücken glänzen matt. So viel Wissen, so viel Mühe, so viel Liebe steckt darin. Liebe des Autors und Liebe des Lesers. Die Bibliothek der verheirateten Herren wird jeden Morgen gut abgestaubt, die der Junggesellen hier und da gradegerückt – auf alle Fälle ist sie da. Wann wird sie gelesen?

Hermann Hesse hat einmal vor Jahren, als er noch seine ausgezeichneten Buchbesprechungen in dem verblichenen ›März‹ schrieb, eine Sortierung seiner Bücher vorgenommen und erzählt, was er alles nicht mehr haben und was er behalten möchte. Vorliebe erkaltet, Neigungen schlafen ein, Bücher, mit denen man wie verheiratet war, werden einem schließlich stumpf, reizlos, gleichgültig, und man liebelt mit neuen. Aber selbst abgesehen von der Frage des Zeitablaufs: wie viel tote Bücher hat jeder in den Regalen stehen, wie viel Attrappen, wie viel Kadaver! Und man kann sich nicht entschließen, sie herzugeben.

Daß es jemand, der von seines Geistes Arbeit lebt, heut fast unmöglich wird, Bücher zu kaufen, ist eine andre Sache – eine andre auch die Tragik der gepeitschten Bücherverkäufer, die, um wieder eine Woche leben zu können, die guten alten Lederbände hergeben. Aber das steht nun dort, und wir sehen jeden Morgen fast gewohnheitsmäßig hin, sind beruhigt, dass noch alles da ist, und fassen es nie an. Und ich bin überzeugt, dass den meisten etwas fehlte, wenn man ihnen die toten Bücher wegnähme – es ist so eine Art Rückendeckung: Nie liest du darin – aber sie sind doch da! So legt sich der Examinand das Geschichtsbuch unters Kopfkissen und schläft mit dem tröstlichen Bewußtsein der wissenschaftlichen Nähe ein …

Wenn sie den Nachlaß ordnen, werden sie staunen über die Vielfältigkeit deiner Interessen. Und wissen nicht, dass du jahre-, jahrzehntelang die Bände reihenweise nicht mehr angerührt hast – sie hatten nur dagestanden, wirkungsvolles Relief für Heimfotografien. Oder mehr? Seltsames Gefühl, so ein totes Buch noch einmal aufzuschlagen, wie der alte Mann in ›Immensee‹ tut: »Dann nickte er auch den Stuhl zum Tische, nahm eins der aufgeschlagenen Bücher und vertiefte sich in Studien, an denen er einst die Kraft seiner Jugend geübt hatte.«

Streiche liebevoll über die Rücken. Im Gleiten liest deine Hand noch einmal alles, was du je geliebt.

Peter Panter
Die Weltbühne, 18.05.1922, Nr. 20, S. 514.