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Jacob Voorhoeve Homöopathie in der Praxis I. Darstellung der Grundsätze und Lehren der Homöopathie

IV. Abschnitt.
Ein wichtiger Brief Hahnemanns

"Mögen sie mein Werk verkennen,

Wahrheit läßt sich nicht verbrennen;

Wird nie vergeh'n,

Wird als Phönix aufersteh'n!"

(Boccaccio.)

 

Von großem Interesse ist ein Brief Hahnemanns an Hufeland, welcher in dessen "Journal der praktischen Heilkunde" (1801, Band 6) veröffentlicht ist, worin der Entdecker der Homöopathie seinen Standpunkt in Bezug auf kleine Arzneimittelgaben darlegt und solche klare Gedanken über die Wirksamkeit der homöopathischen Verdünnungen entwickelt, daß es der Mühe wert ist, unseren Lesern einen Auszug aus diesem noch viel zu wenig bekannt gewordenen Briefe zu geben, da ein Grundprinzip der homöopathischen Heilweise, die Anwendung kleiner Arzneigaben, vom Hahnemannschen Standpunkt aus betrachtet, darin so deutlich erläutert wird.

Hufeland, eine Autorität der Medizin am Ende des 18ten Jahrhunderts, hatte Hahnemann schon wiederholt Gelegenheit gegeben, seine Gedanken über seine neue Heilweise öffentlich im "Journal" darzulegen und stand im allgemeinen seiner Methode nicht feindselig gegenüber. An die Wirksamkeit so kleiner Quantitäten Arznei schien er aber nicht glauben zu wollen und richtete deshalb über diesen Gegenstand einige Fragen an Hahnemann, welche dieser in einem offenen Briefe an Hufeland auf folgende treffende Weise beantwortete:

"Sie fragen mich dringend: was kann denn 1/10.000 Gran 1) Belladonna wirken? Das Wörtchen "kann" ist mir anstößig und mißleitend. Unsere Kompendien haben schon abgeurteilt, was die Arzneien und gewisse Gaben derselben wirken können und welche genau zu brauchen seien; sie haben schon so bestimmt entschieden, daß man sie für symbolische Bücher halten sollte, wenn Arzneidogmen dem Glaubenszwang unterworfen wären. Aber, Gott sei Dank, das sind sie doch nicht; man weiß, daß unsere Arzneimittellehren ihren Ursprung am wenigsten der lauteren Erfahrung zu danken haben, sondern viel mehr dem Nachbeten der Weisheit früherer schwachsichtiger Geschlechter. Lassen sie uns nicht die Kompendien, sondern die Natur fragen: "Was wirkt 1/10.000 Gran Belladonna?"

"Eine recht hart getrocknete Pille des Belladonnadicksaftes wirkt bei einem robusten, ganz gesunden Landmanne oder Tagelöhner gewöhnlich nichts. Hieraus folgt aber beileibe nicht, dass ein Gran dieses Dicksaftes eine gehörige oder wohl gar zu schwache Gabe für diesen Mann sein würde, wenn er krank wäre, oder wenn man ihm den Gran in Auflösung gäbe — beileibe nicht! Lasset hier die Kompendien schweigen und die Erfahrung reden! Auch der gesundeste Drescher wird von einem Gran Belladonnadicksaft von den heftigsten und gefährlichsten Zufällen befallen werden, wenn man diesen Gran durch Reiben in vielem, z. B. zwei Pfund (= 720 Gramm) Wasser genau auflöst, die Mischung unter Zusatz von etwas Weingeist (denn alle vegetabilischen Säfte verderben schnell und verlieren dann ihre Arzneikraft) durch 5 Minuten langes Schütteln in einer Flasche recht innig macht und sie ihm eßlöffelweise binnen 6 oder 8 Stunden einnehmen läßt. Diese zwei Pfund werden etwa 10.000 Tropfen enthalten. Wird nun einer dieser Tropfen mit 6 Unzen (= 180 Gramm) Wasser und etwas Weingeist versetzt und durch starkes Schütteln gut vermischt, so wird ein Teelöffel dieser Mischung, alle zwei Stunden eingegeben, noch eine deutliche Wirkung auf den Mann ausüben, wenn er krank ist und seine Krankheit von der Art ist, daß Belladonna auf sie paßt. Eine solche Dosis enthält ungefähr 1/1.000.000 Gran des ursprünglichen Mittels.

"Die harte Belladonnapille findet im gesunden Körper sehr wenig Berührungspunkte; sie gleitet fast völlig unaufgelöst über die mit Schleim bekleidete Fläche des Speisekanals hinüber, bis sie, von Exkrementen völlig eingehüllt, ihren natürlichen baldigen Abgang findet. Unendlich anders ist es mit der Auflösung und zwar der innigen Auflösung. So dünn wie sie ist, hat sie bei ihrem Durchgang durch den Körper viel mehr Berührungspunkte und durch die Verteilung ihrer Atome eine kräftigere Wirkung als die millionmal mehr Arzneiteile enthaltende kompakte Pille auszuüben vermag.

"Warum aber," wendet man mir ein, "hat noch niemand anders bis jetzt jene auffallende Wirkung der Belladonna und anderer Arzneien in so kleiner Gabe wahrgenommen? Die Antwort ist nicht schwer. Erstens, weil viele bloss wässerige Auflösungen versucht haben mögen, deren Arzneikraft, wie oben erinnert, in wenigen Stunden durch die innere Gärung der Säfte vernichtet ist; zweitens, weil viele Ärzte sich durch unbesiegbaren, vorgefaßten Unglauben von jedem Versuche dieser Art abhalten lassen und drittens, weil niemand die positiven und absoluten Wirkungen der Arzneien auf den gesunden Körper zu beobachten und zu studieren würdigt.

"Es ist eine unerhörte Sache für den Arzt der alten Schule, daß sehr kleine Gaben eines Mittels, welches vom Gesunden ohne sonderliche Beschwerden verschluckt werden kann, einen Kranken stark affizieren können — und doch ist es unleugbar! Es ist Tatsache, daß in Krankheiten das natürliche Unterscheidungsvermögen für das, was von Vorteil oder Nachteil ist, viel mehr entwickelt ist, als in gesunden Tagen. Wie fein distinguirt der Kranke Getränke, die ihm wohltun, von den schädlichen! Welche ungeheure Portion Fleischbrühe mag bei einem gesunden Magen wohl dazu gehören, um ihm gewaltsames Erbrechen zu erregen! Und siehe, dem akuten Fieberkranken wird schon übel von dem bloßen Geruch derselben; vielleicht der millionste Teil eines Tropfens, der die Nasenhaut berührt, ist hierzu schon hinreichend! Wird man je einsehen lernen, wie klein die Gaben der Arzneimittel sein dürfen, um den Körper im kranken Zustande zu beeinflussen? Ja, die größte Krankheit weicht oft in kurzer Zeit, wenn das passende Arzneimittel in geringer Dosis verabreicht wird.

"Wem diese allgemeinen Winke genügen, der wird mir auch glauben, wenn ich versichere, daß ich verschiedene Lähmungen gehoben habe durch mehrwöchentlichen Gebrauch einer sehr verdünnten Belladonna-Auflösung, wo auf die ganze Kur noch kein volles hunderttausendtel Gran Belladonna­dicksaft kam und ebenso einige periodische Nervenkrankheiten und Dispositionen zu Blutschwären durch einen nicht vollen Millionteil in der ganzen Kur.

"Wenn die passende Arznei in Auflösung schon in solch kleiner Gabe hilft — und daß sie dies tut, lehrt die Erfahrung in Tausenden von Fällen — wie äußerst wichtig ist dann nicht auf der andern Seite der Umstand, daß, falls sie ja unrecht gewählt sein sollte, eine so kleine Gabe doch selten so bedenkliche Zufälle erregen kann, daß diese nicht bald von selbst verschwinden oder durch eine Kleinigkeit von Gegenmitteln gehoben werden können!"

Die Antwort Hufelands auf diesen Brief Hahnemanns ist uns nicht bekannt, aber seine Denkungsart über die Homöopathie kann man aus den Worten erkennen, mit denen er den Medizinalrat Dr. Stapf am 2ten März 1821 in die Berliner "Charité" einführte. Er sagte u. a.: "Die Homöopathie ist mir vorzüglich in zwei Richtungen höchst schätzenswert: Einmal, weil sie die Kunst auf den allein richtigen Weg der ruhigen Beobachtung und Erfahrung zurückführt und die so sehr vernachlässigte Schätzung der Symptomatik neu belebt; dann aber auch, weil sie Einfachheit in die Behandlung bringt."

Hätte Hufeland noch einige Jahre gelebt, so gäbe es jetzt einen Lehrstuhl für Homöopathie in Berlin; durch seinen Tod wurden die darüber schon begonnenen Verhandlungen abgebrochen und andere verstanden es, die offizielle Vertretung dieses unleugbaren Fortschrittes in der Wissenschaft zu unterdrücken. Das Heimatland der Homöopathie mußte andern Ländern in der Anerkennung von Hahnemanns Entdeckung und Lehre den Vorrang lassen!

 

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1) 1 Gran ist die Einheit des alten Apothekergewichtes und gleich 0.06 unseres gegenwärtigen Gramm-gewichtes.



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