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VIII. Wissen und Worte

Materialismus

Der Materialismus hat das gewaltige Verdienst, die theologischen Mauern eingerannt zu haben. Dazu gehört ein dicker Schädel, und wirklich ist die Beschränktheit des Materialismus fast ebenso groß wie die seiner Gegner. Als praktischer Lebensgrundsatz ist der Materialismus eine Schlauheit, als Weltanschauung ist er die platte Dummheit. Wohl zu unterscheiden ist die realistische Erkenntnistheorie, wie sie besonders tief von Mach und Avenarius gelehrt wird, trotzdem sie sich selbst für materialistisch hält. Mach und Avenarius kehren nur auf dem Umwege über alle Abgründe des Denkens zum naiven Realismus zurück. Avenarius ("Der menschliche Weltbegriff", 2. Aufl. S. 5) geht so weit, für ursprüngliche Abweichung vom naiven Realismus Psychosen und — Philosophien nebeneinander verantwortlich zu machen. Doch Mach und Avenarius geben nur realistische Erkenntnistheorie, nicht materialistische Weltanschauung.

Denn so viel müssen wir nachgerade gelernt haben, dass uns die gesamte äußere Welt nur aus den Empfindungen unserer Seele bekannt ist, dass der Stoff oder die Materie, die der Außenwelt zugrunde liegen soll, keine gewissere Hypothese ist als die einer göttlichen Menschenseele, dass also für jeden Einzelnen seine Innenwelt das Gewisse, das Unmittelbare ist, seine Außenwelt das Ungewisse, das Mittelbare. So paradox es klingen mag, so wäre die Physik die nebelhafteste, die Psychologie (das heißt Erkenntnislehre, das heißt Metaphysik) die greifbarste Wissenschaft, wenn . . .

Ja: wenn! Die Physik ist nur in ihrer Lehre an Worte gebunden, nicht in ihren Erscheinungen. Wortlos empfinden wir die Macht der Natur, wortlos begreifen wir und ziffernlos messen wir mechanische und akustische, optische und elektrische Bewegungen. Wohl hat noch kein Lebendiger einen Beweis gefunden für das Dasein der Außenwelt, aber physisch gehören wir selbst zu ihr, die Fluten des Alls durchströmen uns, wir sie, und der Kern unseres Wesens, das ist unser Leben, ist ein Teil dieser unbewiesenen Natur.

Die Psychologie aber, die uns so unmittelbar bekannt scheint, haftet an unseren Worten, ist ein Denken in Worten, ist also nur das Erbteil des Menschengeschlechts, ist vielleicht nichts weiter als die Übung der Übungen, die Gewohnheit der Gewohnheiten, ein Wortgebäude, aus Lautzeichen entstanden, mit denen die Nervenbahnen sich's bequem machen wollten. Unser ganzes Denken ist vielleicht nur mit dem elenden Tropfen Öl zu vergleichen, mit dem die Maschine sich automatisch schmiert, damit alles glatter geht. Und wie uns in schweren Stunden aufreibender Gedankenarbeit der ganze Materialismus als ein gemeiner Traum erscheint, so kann auch das Wortgebäude unseres Denkens am Ende doch im Sinne anderer Menschen der unruhige Traum der Materie sein.

Der Rest ist Zweifel. Nur wer an etwas glaubt, z. B. an den Wert der Worte, könnte Verzweiflung sagen.

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