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Begriff und Gesetz

Und wieder hoffe ich diese Lehre deutlicher und wertvoller zu machen, wenn ich das Vorgehen John Herschels an ganz gemeinen Vorstellungen nachweise. Lange bevor die Menschen zu dem Begriffe oder dem Gesetze des Jahreswechsels gekommen waren, gewiß aber später, als sie das Gesetz von Tag und Nacht erkannten, müssen irgendwo die Menschen oder ein hervorragender Geist unter ihnen auf den Einfall gekommen sein, die Worte Fisch und Eiche zu finden. Wir wissen bereits im allgemeinen, dass Begriffsbildung, Induktion und Abstraktion dasselbe ist; wenigstens wissen meine Leser, dass ich es behaupte. Nun aber gibt mir die vorsichtige Kühnheit John Herschels Anlaß zu zeigen, dass auch so einfache Worte nicht anders entstanden sein konnten. Es muß eine Zeit gegeben haben, in der der Begriff Eiche noch nicht existierte, noch nicht von dem älteren Begriffe Baum losgelöst war. Wie entstand dieser Begriff? Der hervorragende Mann jener Ururzeit beobachtete zwischen einer Anzahl Bäume eine gewisse Annäherung, z. B. in der Form der Blätter und der Früchte. Die Blätter mancher dieser Bäume sahen wieder den Blättern anderer Bäume ähnlich, die sich aber durch ihre Früchte unterschieden. Und so ging alles bunt durcheinander. Eine Kurve — die neue Mathematik wird mir dieses Wort auch für die Sprachgeschichte gestatten —, eine vernünftige Linie, welche gerade nur diese Bäume verband, ergaben die Beobachtungen nicht. Dennoch entschloß sich der hervorragende Mann jener Ururzeit, zwar nicht durch die einzelnen Beobachtungspunkte, aber zwischen ihnen hindurch eine solche vernünftige Kurve zu ziehen, und "erfand" oder benutzte dazu das Wort "Eiche". Ein ebenso kühner Mann erfand oder benutzte das Wort "Fisch", trotzdem die Kurve der Beobachtungspunkte nicht genau stimmte. Es gibt kein Wort, worauf diese Betrachtung nicht ausgedehnt werden könnte. Wir sagen "Pferd", trotzdem die Kurve bezüglich der Größe, der Farbe usw. durchaus nicht ganz "vernünftig" ist.

Es scheint mir aus dieser Untersuchung hervorzugehen, dass auch in solchen klassischen Fällen der sogenannten Abstraktion nur eine Induktion vorlag, dieselbe Induktion, durch welche Herschel die Doppelsternbahn, durch welche Kepler die Marsbahn fand. Aber noch mehr. Uns sind die Worte: Eiche, Fisch, Pferd usw. so geläufig, dass wir sie einzig und allein als Begriffe auffassen und stutzig werden, wenn einer sie Naturgesetze nennen wollte. Ich hoffe aber, überzeugend gewesen zu sein. So wie der geniale Entdecker des Jahreswechsels ein Naturgesetz aufgefunden hatte, das uns nachher zum Begriffe wurde, ganz ebenso — man achte wohl darauf — war für die genialen Entdecker aller Gattungsoder Artbegriffe jede solche Entdeckung zuerst ein Gesetz. Und ein verblüffendes Gesetz mag es gewesen sein, als so ein Forscher der Ururzeit lehrte: es geht in der Natur gar nicht so regellos und unvernünftig zu, wie wir Menschentiere bisher geglaubt haben; es gibt Arten, das heißt Gesetze, das heißt Begriffe. John Herschel hatte die Vermutung, es werde wohl die Bahn der Doppelsterne eine Ursache haben und darum auch eine bestimmte Form. Der Entdecker der Pferdeart hatte ebenso die Vermutung, es werde für diese untereinander ähnlichen Tiere eine Ursache und eine Form geben. Hinter der Doppelsternbahn stand das Gesetz: die Gravitation. Hinter dem Artbegriff steht das Gesetz: die Abstammung. Die ganze Geschichte der Menschenerkenntnis ist die ewige Bemühung, die Gesetze, welche durch Gewohnheit zum Begriff verflüchtigen, durch neue Beobachtungen wieder als Gesetze zu empfinden. Was wir zu wissen glauben, wird uns zum Begriff; was wir ganz bestimmt nicht wissen, aber gern wissen möchten, das ist ein Gesetz. Es ist ein furchtbarer Hohn auf die menschliche Sprache, dass dieselben Worte, die auf der einen Seite unter der gewaltigsten Anstrengung der besten Köpfe bis zu der Bedeutung von Naturgesetzen emporsteigen, auf der anderen Seite unter Mitwirkung der Masse als leere Begriffe wieder hinabsinken, um wo möglich den Kreislauf von neuem zu beginnen. Ich glaube eine ungeheure Baggermaschine vor mir zu sehen, deren Eimer auf der einen Seite den Sand des Flußbettes langsam emporziehen, um ihn auf der anderen Seite wieder in das unendlich fließende Flußbett zurückzuschütten. Eine wahnsinnig gewordene Baggermaschine.

Einzig und allein diese skeptische Einsicht, dass Induktion und Abstraktion nicht wesentlich verschieden seien, dass Gesetz und Begriff nur verschiedene Auffassungen unserer Worte sind, nur diese verzweifelte Lehre kann das Problem, wenn nicht lösen, so doch beiseite schaffen: was eigentlich unsere empirischen Induktionen dahin leite, dass sie zu neuen Erkenntnissen werden. Die bisherige Lehre von der Induktion hat (um große Gegensätze zu nennen) die englische Forschung von der deutschen getrennt, die Naturwissenschaft von der Philosophie. Nach meiner Auffassung können sich Philosophie und Naturwissenschaft vereinigen, freilich nur im Zweifel an der Erkenntnis selbst, in der Resignation, wie Hamlet und Laertes gemeinsam in das Grab Ophelias springen.