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Schriftliche Sprache

Aber mit der weiteren Entwicklung der Buchstabenschrift hat sich unter den höchst Gebildeten eines Volkes, das heißt unter seinen Büchermenschen, eine neue Art der Schriftsprache herausgebildet, die von exakten Psychologen noch genauer untersucht werden sollte, wenn auch das Grundphänomen, von dem ich jetzt ausgehe, lange schon bekannt ist. Wir alle sind in einem so hohen Grade Büchermenschen geworden, dass es sich bei vielen von uns fragt, ob die Wortzeichen, die unsere Augen sehen, überhaupt noch mit den Schallvorstellungen der lebendigen Sprache etwas zu tun haben. Wenn ich z. B. nach einer oberflächlichen Schätzung bis jetzt etwa fünfundzwanzigtausend Bücher gelesen habe, so hat sich ohne Frage in meinem Gehirn eine direkte Verbindung zwischen dem sichtbaren Wortbild und seinem Begriffe hergestellt. Wir Büchermenschen denken — insolange wir lesen — mit den Augen, mit unseren Buchstabenaugen; glücklich die, welche sich die Frische bewahrt haben, um vorher und nachher mit diesen Augen auch die lebende Natur aufnehmen und mit allen übrigen Sinnen empfinden zu können. Aber insolange wir lesen, denken wir doch — wie gesagt — mit den Augen. Was wir dabei auf unsere Vorstellungen wirken lassen, ist demnach in einem ganz eingeschränkten Sinne eine schriftliche Sprache. Es fällt mir kein brauchbares Wort für diesen neuen Begriff ein; Augensprache, Bildersprache, Buchsprache, alles ist schon von anderen Begriffen in Anspruch genommen. Und doch ist der Begriff einer solchen rein schriftlichen Sprache ohne entsprechende begleitende Schallvorstellungen längst vorhanden. Die Gelehrten wissen, dass es eine chinesische Schriftsprache gibt, in der sich die chinesischen Gelehrten verständigen können, trotzdem sie sie verschieden lesen, dass es eine chinesische Schriftsprache gibt, welche die Gelehrten lesend verstehen, ohne an ihre Aussprache zu denken. So schmerzlich es auch für unseren europäischen Kulturstolz sein mag: ich behaupte, dass die sogenannten führenden Geister unserer Völker, freilich nur die Büchermenschen, vollkommen jenen chinesischen Gelehrten gleichen, Wenn sie schreibend oder lesend ihre Schriftsprache (in diesem beschränkten Sinne) gebrauchen.

Wenn wir nun eingesehen haben, dass die syntaktischen Formen um so strenger nach den Regeln der Grammatik angewandt werden, je mehr sich unsere Gemeinsprache der künstlichen Sprache der Schriftsteller, Professoren und Redner nähert, so Werden wir jetzt begreifen, dass das eigentliche Feld der Syntax die völlig tote, nur für die Augen vorhandene, unwirkliche Schriftsprache (in beschränktem Sinn) ist. Es ist also gar nicht verwunderlich, wenn die zufällige, von uns gar nicht mehr mitempfundene Syntax einer toten Sprache, die des Lateinischen, zum Musterbilde unserer Büchersprache geworden ist. Weiter konnte sich die menschliche Sprache von ihrer ursprünglichen Aufgabe nicht mehr entfernen: durch Töne Vorstellungen zu erwecken. Oder ist auch diese Klage wieder nur die reaktionäre Anschauung eines Mannes, der bei allem Radikalismus dennoch die alte, klingende, Anschauungen weckende Sprache liebt und sie darum schön findet, wie der Stier die Kuh schön findet? Ist auch diese meine Klage über das Absterben der Sprache, über ihre Vernichtung durch die Bildung nur ein Beweis für die Unzulänglichkeit meiner Kritik, für die Befangenheit, ja Rückständigkeit meiner Ansichten? Ist die Verwandlung der heißgeliebten, oft so berückenden, tönenden Muttersprache in die lautlose Büchersprache, ist vielleicht die lautlose Büchersprache, ist vielleicht die Ausbildung des direkten Weges in unserem Gehirn, die Entstehung eines farblosen Buchstabendenkens, ist sie vielleicht gar ein Fortschritt? Ich glaube es nicht. Dass ich es aber nicht glauben kann, ist wahrscheinlich nur eine Folge meiner Beschränktheit. Wer diese letzten Zeilen für eine Koketterie hält, Wer nicht aus ihnen den stillsten und bittersten Zweifeli an der Möglichkeit jeder Sprachkritik und jedes Bis-ans-Ende-Denkens herausliest, der hat freilich keine Veranlassung, auf meine Beschränktheit herabzusehen.