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Flexionen aus Richtungsworten entstanden

Halten wir unsere Phantasie von der Entstehung der Sprachformen usw. fest, so sind wir nach dem letzten Beispiele vielleicht in der Lage, uns die Entstehung der Kasusformen doch glaubhafter zu erklären, als es die neue, unter dem Einfluß der Sanskritisten stehende Sprachwissenschaft getan hat. Diese hat bekanntlich die Sprachen in flexionslose, anklebende und flektierte eingeteilt; sie denkt sich die Entstehung unserer flektierten Sprachen so, dass ein chinesischer Zustand der Einsilbigkeit vorausging, dass das Ankleben von Stämmen, die nachher zu Bildungssilben abgeschwächt wurden, folgte. Abgesehen nun davon, dass die Flexionslosigkeit des Chinesischen nach neueren Forschungen eher wie das Ende als wie der Anfang der Entwickelung aussieht, dass unsere Kultursprachen (besonders das Englische) sich der Flexionslosigkeit nähern, ist auch gar nicht abzusehen, wie Kasus- und Tempusformen künstlich gebildet werden konnten, bevor es eine Grammatik gab. Und eine Grammatik wieder in unserem Sinne konnte es doch ganz gewiß nicht geben, bevor ihre Formen existierten. Aus diesem Dilemma hilft vielleicht eine Vorstellung, die ich mit dem "Mute zu irren", den Sprachphilosophen vorlege. Wie wenn nicht die Substantive durch die Kasusbezeichnungen (mutatis mutandis die Verbalformen) näher bestimmt wurden, sondern die Kasusendungen durch die Substantive? Wie wenn die angeblichen Kasusendungen viel ältere und allgemeinere Worte gewesen wären als die Menge der Substantive? Ich stelle mir das so vor: War das Demonstrativpronomen "da" oder "das" das genus generalissimum, so konnten die Bezeichnungen für Lokalverhältnisse (metaphorisch auf Zeitverhältnisse angewandt) "her, hin, zu, fort, oben, unten usw." sehr allgemeine Begriffe sein, welche in einer Urzeit aus der Situation heraus für die Verständigung zwischen den Menschen genügten. Es konnte — um im Phantasieren zu bleiben — der Generalbegriff der Entfernung im Gegensatz zu dem Generalbegriff der Annäherung z. B. den Ablativ gegen den Akkusativ, die zweite Person gegen die erste, die Vergangenheit gegen die Zukunft bedeuten. dass Substantiv- und Verbalformen dabei durcheinander laufen, ist für eine so alte Zeit eher eine Unterstützung der Hypothese als ein Fehler. In dem zum Richtungsworte entwickelten Demonstrativpronomen sprach sich die Situation des sprechenden Menschen aus. Als diese arme Sprache dem Reichtum der wachsenden Seelensituation nicht mehr entsprach, als die Richtungsworte durch die inzwischen entstandenen Substantive, Adjektive oder Verben näher bestimmt wurden, analogische Flexionssilben wurden, da wurde die Bedeutung dieser alten Richtungssilben nachträglich durch die Wirklichkeitswelt gegeben, und so mußte es freilich kommen, dass unsere in der Grammatik aufgezählten Kasusformen eine so unzusammenhängende Fülle von Bedeutungen aufweisen wie z. B. unser Genitiv. Die Unbestimmtheit aller grammatikalischen Kategorien wäre dann aus ihrem Ursprung erklärt.

Wo sich diese alten Richtungsworte (die meistens durch ihr altertümliches Gepräge auffallen) erhalten haben, da weisen sie die gleiche unzusammenhängende Fülle der Bedeutungen auf wie die Bildungssilben der Kasus. Man denke nur an den fast uneingeschränkten Gebrauch unserer Worte "von" und "vor". Und es ist, als ob die Sprache auf den metaphorischen Gebrauch der Richtungsworte gar nicht verzichten könnte. Im Französischen und gar im Englischen ist die Rückkehr beinahe vollendet; die Richtungsworte, welche einst vielleicht die Sprache ausmachten, welche dann zu Kasusbezeichnungen wurden, sind am Ende der Worte ausgefallen, nach langsamer Abschwächung, und stehen jetzt breit und schwer im gleichen Dienste vor den Worten, als tonlose Kasuszeichen. Und selbst die Jahrtausende alte Trennung von Substantiven und Verben hindert nicht, dass dieselben Richtungsworte und in der gleichen Bedeutung mehr und mehr den Verben vorangestellt werden. Ich glaube es deutlich vorstellen zu können, dass der Generalbegriff "in" oder "hin" einmal aus der Situation heraus genügte, um verständlich auszudrücken, dass entweder der Sprecher an einen bestimmten Ort gehen wolle oder der Hörer hingehen solle. Der größere Reichtum der Situationsmöglichkeiten mochte dann dazu führen, diesen Generalbegriff, der Verbum, Substantiv und Richtungsinteresse zusammenfaßte, weiter zu erklären. "Gehen — Stadt — hin" besagte nicht mehr als das "hin" allein. Die Sprachen konnten die Begriffe ordnen, wie sie wollten (ire urbem, ire in urbem, inire urbem, inire in urbem), das Richtungswort, der Vorläufer der Flexionssilben, war das allein Sagenswerte, fast möchte ich sagen, das allein Sagbare; alle übrigen Satzbestandteile waren nur ein Ersatz für die einer Urzeit völlig gegenwärtige Situation.