Darstellung der Philosophie Malebranches 133)


§ 72. Das Wesen des Geistes und der Idee


Das Wesen des Geistes besteht allein im Denken, wie das Wesen der Materie nur in der Ausdehnung besteht. Der Wille, die Einbildungskraft, das Gefühl sind nur verschiedene Modifikationen, Bestimmungen (Arten) des Denkens, gleichwie die vielen besondern materiellen Formen wie Wasser, Feuer, Holz nur verschiedene Modifikationen der Ausdehnung sind. Man kann sich wohl einen Geist denken, der keine Gefühle, keine Phantasie, selbst keinen Willen hat, aber einen Geist sich vorzustellen, der nicht denkt, ist ebenso unmöglich als eine Materie, die nicht ausgedehnt ist, wiewohl es sehr leicht ist, sich eine Materie ohne bestimmte Gestalt und Form und selbst ohne Bewegung vorzustellen. So wie aber die Materie oder Ausdehnung ohne Bewegung ganz umsonst wäre und nicht die mannigfaltigen Formen in sich fassen könnte, die doch ihr Zweck sind, und daher so nicht von einem vernünftigen Wesen hervorgebracht werden konnte, ebenso wäre das Denken oder der Geist ohne Willen ganz und gar unnütz, weil er dann keine Neigung zu den Gegenständen seiner Vorstellungen und keine Liebe zum Guten hätte, das der Zweck seines Daseins ist, und er konnte daher nicht in dieser Weise von einem vernünftigen Wesen hervorgebracht werden. Aber deswegen gehört doch nicht der Wille zum Wesen des Geistes, weil er das Denken voraussetzt, sowenig als die Bewegung zum Wesen der Materie, weil sie die Ausdehnung voraussetzt. Obgleich aber der Wille nicht wesentlich ist, so ist er doch immer mit dem Geiste verbunden. (Liv. III, ch. 1, P. I)

Die Objekte außer uns nehmen wir nicht durch sie selbst wahr. Wir sehen die Sonne, die Sterne und unzählige andere Objekte außer uns, und es ist nicht wahrscheinlich, daß die Seele außer den Körper hinausgeht und gleichsam im Himmel herumspaziert, um dort alle Objekte zu betrachten. Sie sieht sie also nicht durch sie selbst, und das unmittelbare Objekt unsers Geistes, wenn er z.B. die Sonne sieht, ist nicht die Sonne, sondern eine mit unsrer Seele innigst vereinte Sache, die ich Idee nenne. Die Idee ist also nichts andres als das unmittelbare oder nächste Objekt des Geistes, wenn er irgendein Objekt vorstellt, und die Seele kann nur die Sonne sehen, mit der sie aufs innigste vereint ist, die Sonne, die wie sie keinen Ort einnimmt. Zur Vorstellung eines Objekts ist die wirkliche Gegenwart der Idee dieses Objekts absolut notwendig, aber es ist nicht notwendig, daß irgend etwas Äußeres existiert, was dieser Idee ähnlich ist. Die Ideen jedoch haben eine sehr reelle Existenz. Die Menschen freilich, die so sehr zu dem Glauben geneigt sind, daß nur körperliche Objekte existieren, urteilen über nichts schiefer als über die Realität und Existenz der Dinge. Denn so wie sie etwas empfinden, so halten sie nicht nur die Existenz desselben für gewiß, obgleich oft nichts außer ihnen existiert sondern sie meinen auch, daß dies Objekt ganz so sei, wie sie es empfinden, was doch niemals der Fall ist. Die Idee dagegen, die notwendig existiert und notwendig so ist, wie sie uns Objekt ist, halten sie für nichts, als wenn die Ideen nicht sehr viele sie voneinander unterscheidende Eigenschaften hätten und dem Nichts Eigenschaften zukämen. (Éclairc. III u. Liv. III, P. II, ch. 1)

Alles, was die Seele vorstellt, ist entweder in oder außer der Seele. In der Seele sind ihre verschiedene Modifikationen, d.h. alles, was nicht in ihr sein kann, ohne daß sie es durch ihr eigenes inneres Selbstbewußtsein wahrnimmt, also ihre eignen Vorstellungen, Gefühle, Begriffe, Neigungen. Zur Wahrnehmung dieser Gegenstände bedarf die Seele keiner Ideen; denn jene Modifikationen sind nichts als die Seele selbst in dieser oder jener Form. Aber die Dinge außer der Seele kann sie nur vermittelst der Ideen wahrnehmen. (Ebd.)

 

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133) Diese Darstellung ist lediglich aus Malebranches Hauptwerk, »De la Recherche de la Vérité«, geschöpft, und die Ausgabe, nach der hier zitiert wird, ist die VII. Edit. revuë et augmentée de plusieurs Éclaircissemens, à Paris 1721, II T. 4,


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