Gedächtnis


Müßte irgend ein Mensch ein Tagebuch führen, so müßte ich es, und zwar, um meinem Gedächtnis etwas zu Hilfe zu kommen. Nach Verlauf von einiger Zeit geht es mir öfter so, dass ich völlig vergessen habe, welche Gründe mich zu diesem oder jenem vermochten, und das gar nicht nur in betreff geringfügiger Dinge, sondern der allerentscheidendsten Schritte. Fällt mir dann der Beweggrund ein, so kann er mitunter so sonderbarer Art sein, dass ich nicht einmal selbst es glauben mag, dieses sei der Grund gewesen. Ein solcher Zweifel würde beseitigt, wenn ich irgend etwas Geschriebenes hätte, mich daran zu halten. Ein Grund ist überhaupt ein sonderbares Ding. Sehe ich ihn mit meiner vollen Leidenschaft an, so wächst er empor zu einer ungeheuren Notwendigkeit, welche Himmel und Erde in Bewegung setzen kann; bin ich ohne Leidenschaft, dann blicke ich höhnisch lächelnd auf ihn herab. - Ich habe nun schon längere Zeit darüber spekuliert, welcher Grund mich eigentlich bewegen hat, meine Adjunktur (d.h. das Lehreramt an einer gelehrten Schule) niederzulegen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, so kommt es mir vor, dass eine derartige Anstellung just etwas für mich war. Heute ist mir ein Licht aufgegangen: der Beweggrund war eben dieser, dass ich mich für diesen Posten ganz besonders geschickt halten durste. Wäre ich damals in meinem Amte geblieben, so hätte ich alles einzusetzen und alles zu verlieren gehabt, nichts zu gewinnen. Deshalb sah ich es als das Richtigste an, meinen Posten aufzugeben und bei einer umherziehenden Schauspielergesellschaft ein Engagement zu suchen, aus dem Grunde, weil ich kein Talent hatte und also alles zu gewinnen.

 

* * *


 © textlog.de 2004 • 18.04.2024 05:45:45 •
Seite zuletzt aktualisiert: 22.01.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright