Die Angst


Labdakos' Geschlecht ist also Gegenstand des Ingrimms der erzürnten Götter. Ödipus hat die Sphinx getötet, Theben befreit. Ödipus hat seinen Vater umgebracht, seine Mutter geehlicht, Antigone ist die Frucht dieser Ehe. So in der griechischen Tragödie. Hier weiche ich ab. Alles verhält sich bei mir ebenso, und doch ist alles anders. Daß er die Sphinx getötet und Theben befreit hat, ist allen bekannt. Ödipus lebt geehrt und bewundert, glücklich in seiner Ehe mit Jokaste. Das übrige ist vor der Menschen Augen verborgen, und keine Ahnung hat den grauenvollen Traum in die Wirklichkeit versetzt. Nur Antigone weiß davon. Auf welche Art sie es erfahren, liegt außerhalb des tragischen Interesses, und jeder kann sich in dieser Hinsicht seiner eignen Kombination überlassen. In einem frühern Lebensalter, ehe sie noch völlig gereift war, haben dunkle Hindeutungen auf das entsetzliche Geheimnis momentweise ihre Seele ergriffen, bis die Gewißheit sie plötzlich der tiefsten Seelenangst in die Arme wirft. Hier habe ich nun sogleich einen dem Modern-Tragischen angehörigen Begriff. Angst ist nämlich ein innerer Zustand, eine Reflexion, und insofern vom Leide wesentlich verschieden. Angst ist das Organ, durch das jemand sich das Leid zu Herzen nimmt, es sich aneignet und assimiliert. Es ist die geistige Kraft, mittels derer das Leid sich in ein Menschenherz hineinbohrt. Die Wirkung derselben ist aber nicht wie die des Pfeiles, sondern eine sukzessive, nicht einfürallemal fertige, sondern eine beständig werdende. Sowie ein leidenschaftlich erotischer Blick seines Gegenstandes begehrt, so die Angst gleichsam lüsternen Blickes des ihr gegenübertretenden Leides. Wie eine stille, unvertilgbare Liebe sich mit ihrem Gegenstande beschäftigt, geradeso die Angst mit dem einen Leide. Aber die Angst hat in sich ein Moment, welches macht, dass sie noch stärker an ihrem Gegenstande haftet: denn sowie sie diesen liebt, so fürchtet sie ihn auch. Teils ist es ihr eigen, das Leib fort und fort und von allen Seiten zu betasten, um es immer völliger aufzudecken; teils liegt es in ihrer Art, in einem einzigen Nu das Leid gleichsam in Bewegung zu setzen, jedoch so, dass dieses plötzliche Nu sich augenblicklich in eine Zeitfolge auflöst. Angst in diesem Sinne ist ein echt tragischer Begriff; und das alte Wort: quem deus vult perdere, primum dementat, läßt sich hier mit Wahrheit anwenden. Daß die Angst eine Reflexions-Bestimmung ist, gibt schon die Sprache zu erkennen. Ich sage immer: sich vor etwas ängsten, wodurch ich die Angst von demjenigen, wovor ich mich ängste, absondre; und niemals kann ich die Angst in objektivem Verstande nennen, während das Wort: »Leid« im objektiven und Subjektiven Verstande gebraucht werden kann (ebenso: meine Sorge, und wiederum; ich sorge um das, was eben meine Sorge ist). Dazu kommt, dass Angst immer die Reflexion auf eine gewisse Zeit in sich schließt: denn ich ängste mich eigentlich nicht über das Gegenwärtige; aber das Vergangene und das Künftige, derart gegeneinandergehalten, dass die Gegenwart verschwindet, beides sind Reflexions-Bestimmungen. Das griechische Leid dagegen ist, wie das ganze griechische Leben, präsentisch, daher das Leid tiefer, der Schmerz aber weniger. Die Angst gehört also wesentlich mit zum Tragischen. Deshalb ist Hamlet so tragisch, weil er das Verbrechen der Mutter ahnt. Robert der Teufel fragt, woher es doch komme, dass er so viel Böses tun müsse. Der nordische Högne, welchen die Mutter im fleischlichen Verkehr mit einem Ungetüm empfangen und geboren hatte, erblickt zufällig im Wasser sein Bild und fragt entsetzt die Mutter, wie er zu einer solchen Leibesgestalt komme.


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Seite zuletzt aktualisiert: 22.01.2006 
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