6. Zwangsgesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit. Die englische Fabrikgesetzgebung von 1833-1864

 

Unter diesen Umständen kam es zu einem Kompromiß zwischen Fabrikanten und Arbeitern, der in dem neuen zusätzlichen Fabrikakt vom 5. August 1850 parlamentarisch besiegelt ist. Für "junge Personen und Frauenzimmer" wurde der Arbeitstag in den ersten 5 Wochentagen von 10 auf 101/2 Stunden erhöht, für den Samstag auf 71/2 Stunden beschränkt. Die Arbeit muß in der Periode von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends vorgehn 169), mit 11/2stündigen Pausen für Mahlzeiten, die gleichzeitig und gemäß den Bestimmungen von 1844 einzuräumen sind usw. Damit war dem Relaissystem ein für allemal ein Ende gemacht.170) Für die Kinderarbeit blieb das Gesetz von 1844 in Kraft.

Eine Fabrikantenkategorie sicherte sich diesmal, wie früher, besondere Seigneurialrechte auf Proletarierkinder. Es waren dies die Seidenfabrikanten. Im Jahr 1833 hatten sie drohend geheult, "wenn man ihnen die Freiheit raube, Kinder jedes Alters täglich 10 Stunden abzurackern, setze man ihre Fabriken still" ("if the liberty of working children of any age for 10 hours a day was taken away, it sould stop their works"). Es sei ihnen unmöglich, eine hinreichende Anzahl von Kindern über 13 Jahren zu kaufen. Sie erpreßten das gewünschte Privilegium. Der Vorwand stellte sich bei später Untersuchung als bare Lüge heraus 171), was sie jedoch nicht verhinderte, während eines Dezenniums aus dem Blut kleiner Kinder, die zur Verrichtung ihrer Arbeit auf Stühle gestellt werden mußten, täglich 10 Stunden Seide zu spinnen.172) Der Akt von 1844 "beraubte" sie zwar der "Freiheit", Kinder unter 11 Jahren länger als 61/2 Stunden, sicherte ihnen dagegen das Privilegium, Kinder zwischen 11 und 13 Jahren 10 Stunden täglich zu verarbeiten, und kassierte den für andre Fabrikkinder vorgeschriebenen Schulzwang. Diesmal der Vorwand:

"Die Delikatesse des Gewebes erheische eine Fingerzartheit, die nur durch frühen Eintritt in die Fabrik zu sichern."173)

Der delikaten Finger wegen wurden die Kinder ganz geschlachtet, wie Hornvieh in Südrußland wegen Haut und Talg. Endlich, 1850, wurde das 1844 eingeräumte Privilegium auf die Departements der Seidenzwirnerei und Seidenhaspelei beschränkt, hier aber, zum Schadenersatz des seiner "Freiheit" beraubten Kapitals, die Arbeitszeit für Kinder von 11 bis 13 Jahren von 10 auf 101/2 Stunden erhöht. Vorwand: "Die Arbeit sei leichter in Seidenfabriken als in den andren Fabriken und in keiner Weise so nachteilig für die Gesundheit."174) Offizielle ärztliche Untersuchung bewies hinterher, daß umgekehrt

"die durchschnittliche Sterblichkeitsrate in den Seidendistrikten ausnahmsweise hoch und unter dem weiblichen Teil der Bevölkerung selbst höher ist als in den Baumwolldistrikten von Lancashire"175).

Trotz der halbjährlich wiederholten Proteste der Fabrikinspektoren dauert der Unfug bis zur Stunde fort.176)

Das Gesetz von 1850 verwandelte nur für "junge Personen und Frauenzimmer" die fünfzehnstündige Periode von halb 6 Uhr morgens bis halb 9 Uhr abends in die zwölfstündige Periode von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Also nicht für Kinder, die immer noch eine halbe Stunde vor Beginn und 21/2 Stunden nach Schluß dieser Periode verwertbar blieben, wenn auch die Gesamtdauer ihrer Arbeit 61/2 Stunden nicht überschreiten durfte. Während der Diskussion des Gesetzes wurde dem Parlament von den Fabrikinspektoren eine Statistik über die infamen Mißbräuche jener Anomalie unterbreitet. Jedoch umsonst. Im Hintergrund lauerte die Absicht, den Arbeitstag der erwachsnen Arbeiter mit Beihilfe der Kinder in Prosperitätsjahren wieder auf 15 Stunden zu schrauben. Die Erfahrung der folgenden 3 Jahre zeigte, daß solcher Versuch am Widerstand der erwachsnen männlichen Arbeiter scheitern müsse.177) Der Akt von 1850 wurde daher 1853 endlich ergänzt durch das Verbot, "Kinder des Morgens vor und Abends nach den jungen Personen und Frauenzimmern zu verwenden". Von nun an regelte, mit wenigen Ausnahmen, der Fabrikakt von 1850 in den ihm unterworfenen Industriezweigen den Arbeitstag aller Arbeiter.178) Seit dem Erlaß des ersten Fabrikakts war jetzt ein halbes Jahrhundert verflossen.179)

Über ihre ursprüngliche Sphäre griff die Gesetzgebung zuerst hinaus durch den "Printworks' Act" (Gesetz über Kattundruckereien usw.) von 1845. Die Unlust, womit das Kapital diese neue "Extravaganz" zuließ, spricht aus jeder Zeile des Akts! Er beschränkt den Arbeitstag für Kinder von 8-13 Jahren und für Frauenzimmer auf 16 Stunden zwischen 6 Uhr morgens und 10 Uhr abends, ohne irgendeine gesetzliche Pause für Mahlzeiten. Er erlaubt, männliche Arbeiter über 13 Jahre Tag und Nacht hindurch beliebig abzuarbeiten.180) Er ist ein parlamentarischer Abort.181)

Dennoch hatte das Prinzip gesiegt mit seinem Sieg in den großen Industriezweigen, welche das eigenste Geschöpf der modernen Produktionsweise. Ihre wundervolle Entwicklung von 1853-1860, Hand in Hand mit der physischen und moralischen Wiedergeburt der Fabrikarbeiter, schlug das blödeste Auge. Die Fabrikanten selbst, denen die gesetzliche Schranke und Regel des Arbeitstags durch halbhundertjährigen Bürgerkrieg Schritt für Schritt abgetrotzt, wiesen prahlend auf den Kontrast mit den noch "freien" Exploitationsgebieten hin.182) Die Pharisäer der "politischen Ökonomie" proklamierten nun die Einsicht in die Notwendigkeit eines gesetzlich geregelten Arbeitstags als charakteristische Neuerrungenschaft ihrer "Wissenschaft".183) Man versteht leicht, daß, nachdem sich die Fabrikmagnaten in das Unvermeidliche gefügt und mit ihm ausgesöhnt, die Widerstandskraft des Kapitals graduell abschwächte, während zugleich die Angriffskraft der Arbeiterklasse wuchs mit der Zahl ihrer Verbündeten in den nicht unmittelbar interessierten Gesellschaftsschichten. Daher vergleichungsweis rascher Fortschritt seit 1860.

Die Färbereien und Bleichereien 184) wurden 1860, die Spitzenfabriken und Strumpfwirkereien 1861 dem Fabrikakt von 1850 unterworfen. Infolge des ersten Berichts der "Kommission über die Beschäftigung der Kinder" (1863) teilten dasselbe Schicksal die Manufaktur aller Erdenwaren (nicht nur Töpfereien), der Zündhölzer, Zündhütchen, Patronen, Tapetenfabrik, Baumwollsamt-Schererei (fustian cutting) und zahlreiche Prozesse, die unter dem Ausdruck "finishing" (letzte Appretur) zusammengefaßt sind. Im Jahre 1863 wurden die "Bleicherei in offner Luft" 185) und die Bäckerei unter eigne Akte gestellt, wovon der erste u.a. die Arbeit von Kindern, jungen Personen und Weibern zur Nachtzeit (von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens) und der zweite die Anwendung von Bäckergesellen unter 18 Jahren zwischen 9 Uhr abends und 5 Uhr morgens verbietet. Auf die spätren Vorschläge der erwähnten Kommission, welche, mit Ausnahme des Ackerbaus, der Minen und des Transportwesens, alle wichtigen englischen Industriezweige der "Freiheit" zu berauben drohen, kommen wir zurück.185a)

 


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