§ 30. Übersicht und Kritik der Hobbesschen Moral und Politik

 

Dies erhellt auch aus dem, was Hobbes als Zweck des Staates setzt. Der Zweck des Staates ist der Friede und das auf ihm beruhende Wohl des Volkes, d. i. der Bürger oder vielmehr der Menge. Das Wohl aber ist die Selbsterhaltung und der physisch angenehme Lebensgenuß. Das Leben im Staate ist als ein Leben, in dem die an sich gegeneinander gleichgültigen Individuen als beschränkt und gehemmt durch die Staatsgesetze friedlich neben- und außereinander bestehen, ein angenehmes und vorteilhaftes Leben, das Leben im Naturzustande, in welchem die Individuen als unbeschränkt, feindlich gegeneinander dastehen und sich daher in einem allgemeinen Kriege befinden, ein unangenehmes und nachteiliges Leben. Das angenehme Leben unterscheidet sich nun freilich wohl vom unangenehmen, aber beide haben doch gemein den Begriff, die Sphäre der sinnlichen Subjektivität des Menschen als einzelnen, natürlichen Individuums; im angenehmen Leben bin ich ebensogut noch im status naturalis als im unangenehmen Leben. Der Staat daher, indem er zum Zwecke das physische Wohlsein der einzelnen, der dissolutae multitudinis hat, ist nur eine Limitation des Naturstandes, d.h., er hemmt und beschränkt nur die Individuen, so daß sie ebenso ohne alle geistige und sittliche Bestimmung und Qualität, ebenso außereinander, nur auf sich selbst und ihr sinnliches Selbst bezogen, ebenso viehisch und brutal bleiben, wie sie es im statu naturali waren, nur daß sie jetzt ihre Brutalität nicht mehr in der Form eines den Frieden, die Selbsterhaltung und das angenehme Leben aufhebenden Krieges äußern.

Wohl entsteht mit dem Staate und in ihm der Unterschied zwischen allgemeinem Willen, allgemeiner Vernunft und einzelnem Willen, einzelner Vernunft und wird somit die im Naturzustande und in der Moral stattfindende Unbestimmtheit und Relativität dessen, was gut und böse ist, aufgehoben; aber dieser allgemeine Wille und diese allgemeine Vernunft sind nur allgemein durch die Gewalt, als der sich als der alleinige Wille geltend machende, ausschließende und unterdrückende Wille der einen obersten Staatsgewalt, die sich wegen ihres unbeschränkten Rechtes im status naturalis befindet. Er ist nur allgemeiner Wille, weil er die Macht zu gebieten hat, aber nicht seines Inhalts wegen, der ein ganz Gleichgültiges ist und folglich selbst von der Willkür des Machthabers nicht unterschieden.61) Was die oberste Staatsgewalt gebietet, ist (gleichviel, ob seiner Natur, seinem Gehalte nach allgemein, d. i. wahr und recht, oder nicht) recht, was sie verbietet, unrecht und hiermit das Prinzip der Willkür, welches dem Naturzustande zugrunde liegt, auch das oberste Prinzip des Staates.62)

 

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55) »Bonorum primum est sua cuique conversatio. Malorum omnium primum Mors.« (»De Hom.«, c. 9, § 4, 6)

56) »Magnus ille Leviathan, quae civitas appellatur, opificium Artis est, et Homo artificialis; quamquam Homine naturali (propter cujus protectionem et salutem excogitatus est) et mole et robore multo major.« (»Leviath.«, P. I, S. 1) »Si homines propriis singulorum imperiis regere se possent, h. e. vivere secundum leges naturales, opus omnino civitate non esset, neque communi imperio coerceri.« (»De Cive«, c. 6, § 13, annot.) »Duo sunt genera civitatum: alterum naturale, quale est Paternum et Despoticum; alterum institutivum, quod et politicum dici potest. In primo Dominus acquirit sibi cives sua voluntate; in altero cives arbitrio suo imponunt sibimet ipsis Dominum.« (»Leviath.«, 1. c.)

57) »Civitate constituta unusquisque civium tantum libertatis sibi retinet, quantum sufficit ad bene et tranquille vivendum, tantum item aliis adimitur, ut non sint metuendi. Extra civitatem unicuique ita jus est ad omnia, ut tamen nulla re frui possit. In civitate vero unusquisque finito jure secure fruitur.« (»De Civ.«, c. 10, § 1)

58) »Quod de civitate verum est, id verum esse intelligitur de eo homine vel coetu hominum, qui summam habet potestatem; illi enim civitas sunt, quae nisi per summam eorum potestatem non exsistit.« (»De Civ.«, c. 12, § 4) »Civitatem in persona Regis contineri.« (l. c., 6, § 13, annot.)

59) Dies ist schon im Ursprung der obersten Staatsgewalt enthalten, wie sie Hobbes ableitet. Die andern übertragen nämlich auf die einigen oder den einen, der herrschen soll, alle ihre Macht und Gewalt, d. i. alle ihre Rechte. Die Gewalt, das Recht des Herrschers, ist nun zwar der Form nach, insofern es nämlich ein übertragenes ist, vom Recht der andern, das ein angeborenes, natürliches ist, unterschieden; aber dem Inhalt nach ist es dasselbe Recht, das die andern hatten, nämlich das unbeschränkte, unbedingte Naturrecht. Wir, so könnte man etwa jene Überträger sprechen lassen, geben das Recht, das uns die Natur gab, dir Einem, damit du mit diesem übervollen Schatz, mit dieser zusammengedrängten, kompakten Masse von Recht die Gewalt habest, die erfordert wird, Friede und Ordnung zu bringen; damit wir in einen Stand des Friedens und der Ordnung kommen, treten wir aus dem Naturstande heraus, nur dich allein lassen wir in demselben zurück, damit du aus der reichen Schatzkammer deiner Rechtsfülle deine ehemaligen, jetzt aber ausgeleerten, bettelarmen Duzbrüder mit Pfennigs und Groschenrechten versorgest und so mit der unbeschränkten Macht des Naturrechtes einen die andern ihrer Rechte beraubenden, sie kümmerlich einschränkenden Zustand, den status civilis, möglich machest.

60) »Est jus libertas naturalis, a legibus non constituta sed relicta. Remotis enim legibus libertas integra est; hanc primo restringit naturalis lex et divina; residuam restringunt leges civiles... Multum ergo interest inter legem et jus; lex enim vinculum, jus libertas est, differuntque ut contraria.« ([»De Cive«, sect.:] »Imper.«, c. 14, § 3; »De Cive«, c. 13, § 15)

61) »In Monarchia« (und die Monarchie ist die beste Staatsform, »De Cive«, »Imp.«, c. 10) »voluntas civilis eadem est cum naturali.« (c. 7, § 14)

62) »Reges legitimi, quae imperant, justa faciunt imperando, quae vetant, vetando injusta.« (»De Civ.«, c. 12, § 1) »Neque igitur tenetur is, cui summum imperium commissum est, legibus civilibus.« (»Imp.«, c. 6, § 14) Wie daher die Rechtlichkeit und Gerechtigkeit, die Tugend der Bürger lediglich im unbedingten Gehorsam (obedientia simplex, »De Civ.«, c. 6, § 13, c. 12, § 2), d. i. im blinden, nicht unterscheidenden, durch keinen Inhalt bestimmten Gehorsam besteht, so ist das Prinzip der Gesetze, dessen, was Recht und Unrecht ist, hiermit das Prinzip des Staates selbst, der bloße, nackte, inhaltslose, bloß formelle Wille des Gebietenden, der bloß unter den subjektiven und unbestimmten Gesetzen der Moral steht, d. i. eben die bloße Willkür, deren Gebote allgemeine objektive Gültigkeit haben nicht wegen ihres Inhaltes oder Grundes, sondern nur deswegen, weil sie gewollt und geboten sind.

 


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