§ 38. Die Physik oder Atomlehre Gassendis


Die Atome sind die ersten Prinzipien der Dinge, die erste Materie. Unter Atom muß man aber nicht, wie gewöhnlich geschieht, etwas verstehen, was keine Teile hat und ohne alle Größe und daher nichts anderes als ein mathematischer Punkt ist, sondern, was so fest und gleichsam so hart und kompakt ist, daß es durch keine Gewalt in der Natur zerteilt werden kann. Die bestimmten, d. i. die zusammengesetzten Körper sind teilbar wegen der Beimischung des Leeren, bis auf die Atome, die ersten Bestandteile der Körper, die, weil sie nichts Leeres mehr in sich enthalten, absolut fest sind und keine Sonderung und Trennung erleiden können; denn wie es in der Welt ein reines Leeres gibt, in dem nichts Körperliches, so gibt es in ihr so feste Körper, in denen nichts Leeres, also kein Prinzip der Trennung ist. Wegen ihrer außerordentlichen Kleinheit aber können die Atome auch nicht durch das allerschärfste Gesicht wahrgenommen werden. Die Notwendigkeit der Atome liegt darin, daß es eine erste Materie geben muß, die unerzeugt und unverderblich ist und in die alles zuletzt sich auflösen läßt. Denn da die Natur nichts aus nichts macht oder in das Nichts zurückführt, so muß bei der Auflösung des Zusammengesetzten etwas Unauflösliches, das nicht mehr weiter in ein anderes zersetzt werden kann, übrigbleiben. Der Satz des Epikur und Lukrez aber: Aus nichts wird nichts, darf nur von den Kräften der Natur verstanden werden und die Ewigkeit und Unsterblichkeit der Materie nur so, daß, solange die Welt erschaffen ist und dauert, kein Teil von ihr untergeht oder zu nichts wird. (»Physic.«, Sect. I, L. III, 5)

Den wesentlichen Beschaffenheiten oder dem Wesen nach sind die Atome nicht unterschieden, denn sie sind alle gleich fest, gleich körperlich und einfach. Die Atome haben aber noch besondere Eigenschaften, nämlich Größe, Gestalt und Gewicht oder Schwere, durch die sie sich voneinander unterscheiden. Deswegen ist das Atom kein Punkt, der, weil er keine Größe hat, auch keine Größe geben kann, denn es ist ganz richtig, wenn man sagt: Unteilbares zu Unteilbarem hinzugetan, erzeugt keine Größe. Obgleich aber das Atom Teile hat und deswegen groß ist, so ist es darum doch nicht teilbar und der Zerstörung unterworfen, weil es außerordentlich fest ist und nichts Leeres in sich hat und seine Teile daher nur dem Gedanken nach unterschieden werden, in der Tat aber nicht sowohl viele Teile als vielmehr eine höchst einfache Wesenheit sind. Diese Teile sind außerordentlich, unvergleichlich, absolut klein, ta elachista minima. Der dem Sinne nach kleinste Teil ist noch aus vielen Myriaden von Atomen zusammengesetzt und daher unendlich größer als ein Atom. Das mag sonderbar klingen, aber was unserm Gesichtssinn sehr klein vorkommt, ist für die Natur selbst sehr groß; ja, wo unsere sorgfältigste und feinste Unterscheidungskraft aufhört, da beginnt erst die subtile und feine Unterscheidungskraft (gleichsam die Spitzfindigkeit) der Natur. In einem Hirsenkörnlein unterscheidet die Natur mehr Teile, als ein Mensch am Kaukasus, ja, am ganzen Erdball zu unterscheiden vermag. Obgleich aber die Atome außerordentlich klein sind, so sind sie doch unterschiedentlich gestaltet, denn sie haben ja eine Größe, und die Figur ist nichts als eine Grenze und Bestimmung der Größe, terminus ac modus magnitudinis. Diese verschiedenen Gestalten der Atome sind zwar unbegreiflich, aber dennoch nicht unendlich. Die dritte Eigenschaft der Atome, die Schwere oder das Gewicht, ist nichts anderes als ihre natürliche Kraft und Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, oder ihr eingeborner, ursprünglicher, von ihnen unzertrennlicher Trieb und Hang zur Bewegung. Die Bewegung ist doppelter Art, die natürliche, wenn das Atom vermöge seines Gewichts abwärts sich bewegt, und die reflexive, wenn das Atom bei seinem Zusammenstoßen mit andern wieder zurückprallt. Die Ursache der reflexen Bewegung liegt sowohl in der Natur des Leeren, weil dieses dem zurückspringenden Atom keinen Widerstand leisten kann, als auch in der Natur der Atome selbst, weil sie wegen ihrer außerordentlichen Festigkeit sich nicht durchdringen können und daher bei einem Zusammentreffen wieder zurückprallen müssen. Alle Atome bewegen sich mit gleicher Geschwindigkeit. Diese apriorische Lehre Epikurs, daß alle Atome, ungeachtet der Verschiedenheit an Gewicht und Masse, doch gleich geschwind sind, bestätigt die Erfahrung, die da zeigt, daß alle Körper, wenn sie gleich von noch so verschiedener Größe und Masse sind, doch gleich geschwind von einer Höhe herabfallen. (l. c., c. 6, 7)

Die Atome und das Leere, denn dieses ist unzertrennlich von jenen, sind also die Prinzipien der Dinge. Dies muß man aber nicht so verstehen, wie man den Epikur mißverstanden hat, nämlich als wenn die Welt oder die vergänglichen zusammengesetzten Dinge aus ihnen wie aus zwei Teilen oder zwei sie zusammensetzenden und konstituierenden Prinzipien beständen. Denn nicht die Atome und das Leere, nur die Atome sind die Elemente der Körper, das Leere dient nur zum Orte und zur Trennung. Denn da das Leere kein Körper ist, wie wäre es denn möglich, daß die Körper aus ihm bestünden? Ob es gleich zwischen den Körpern sich befindet, so macht es doch keinen Teil derselben aus, sowenig als die Luft, die sich in uns innerhalb der Nasen, des Mundes, der Lungen befindet, ein Teil von uns ist. (l. c., c. 8)

Die Atome darf man aber nicht durchaus so annehmen, wie sie Epikur auffaßte, sondern nur mit Beschränkung und Ausscheidung mancher Bestimmungen. So muß man die Bestimmung von ihnen wegnehmen, daß sie ewig, nicht hervorgebracht und der Zahl nach unendlich sind. Man muß sie zwar annehmen als die erste Materie, aber dabei hinzudenken, daß sie Gott endlich schuf, sie zu dieser sichtbaren Welt machte und dann nach ihren eigenen, ihr aber eingegebenen Kräften und Gesetzen sich entwickeln ließ. Man muß daher auch die Bestimmung von den Atomen wegnehmen, daß sie aus sich die Kraft und das Vermögen haben, sich zu bewegen, demzufolge bloß Beweglichkeit in ihnen annehmen, die wirkliche Kraft der Bewegung von Gott ableiten, der sie bei ihrer Erschaffung in ihnen erzeugt und mitwirkt, weil Gott, wie er alles erhält, so auch bei allen Dingen mittätig ist. Der Irrtum Epikurs besteht aber hauptsächlich darin, daß er erstlich behauptete, nicht Gott, sondern der Zufall sei die Ursache der Welt, und zweitens, die Welt sei weder Gottes noch des Menschen wegen gemacht. Denn Gott ist in der Tat die hervorbringende und alles lenkende Ursache der Welt. Wenn man aber gleich Gott die Oberherrschaft über die Natur einräumt, so werden doch deswegen nicht die besondern Ursachen aufgehoben, die durch seinen Willen sind und die er ihre eigenen Rollen spielen läßt. Bei irgendeiner Wirkung der Natur muß man daher nicht sogleich Gott zu Hülfe rufen, als wenn er allein die Ursache und keine natürliche Ursache dazwischen wäre, sondern er ist nur die allgemeine Ursache. (l. c. u. Sect. I, L. IV, c. 6)


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