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Anhang C.

Wort und Ding

Wir wollen nun nachsehen, welcher Annahmen wir für die Erklärung der Sprachstörungen auf Grund eines solchen Aufbaues des Sprachapparates bedürfen, mit anderen Worten, was uns das Studium der Sprachstörungen für die Funktion dieses Apparates lehrt. Dabei wollen wir die psychologische und die anatomische Seite des Gegenstandes möglichst voneinander trennen.

Für die Psychologie ist die Einheit der Sprachfunktion das „Wort“, eine komplexe Vorstellung, die sich als zusammengesetzt aus akustischen, visuellen und kinästhetischen Elementen erweist. Die Kenntnis dieser Zusammensetzung verdanken wir der Pathologie, welche uns zeigt, daß bei organischen Läsionen im Sprachapparate eine Zerlegung der Rede nach dieser Zusammensetzung eintritt. Wir werden so darauf vorbereitet, daß der Wegfall eines dieser Elemente der Wortvorstellung sich als das wesentlichste Kennzeichen erweisen wird, welches uns auf die Lokalisation der Erkrankung zu schließen gestattet. Man führt gewöhnlich vier Bestandteile der Wortvorstellung an: das „Klangbild“, das „visuelle Buchstabenbild“, das „Sprachbewegungsbild“ und das „Schreibbewegungsbild“. Diese Zusammensetzung erscheint aber komplizierter, wenn man auf den wahrscheinlichen Assoziationsvorgang bei den einzelnen Sprach Verrichtungen eingeht:

(1) Wir lernen sprechen, indem wir ein „Wortklangbild“ mit einem „Wortinnervationsgefühl“ assoziieren. Wenn wir gesprochen haben, sind wir in den Besitz einer „Sprachbewegungsvorstellung“ (zentripetale Empfindungen von den Sprachorganen) gelangt, so daß das „Wort“ für uns motorisch doppelt bestimmt ist. Von den beiden bestimmenden Elementen scheint das erstere, die Wortinnervationsvorstellung, psychologisch den geringsten Wert zu besitzen, ja es kann deren Vorkommen als psychisches Moment überhaupt bestritten werden. Außerdem erhalten wir nach dem Sprechen ein „Klangbild“ des gesprochenen Wortes. Solange wir unsere Sprache nicht weiter ausgebildet haben, braucht dieses zweite Klangbild dem ersten nur assoziiert, nicht gleich zu sein. Auf dieser Stufe (der kindlichen Sprachentwickelung) bedienen wir uns einer selbstgeschaffenen Sprache, wir verhalten uns dabei auch wie motorisch Aphasische, indem wir verschiedene fremde Wortklänge mit einem einzigen selbstproduzierten assoziieren.

(2) Wir lernen die Sprache der anderen, indem wir uns bemühen, das von uns selbst produzierte Klangbild dem möglichst ähnlich zu machen, was den Anlaß zur Sprachinnervation gegeben hat. Wir erlernen so das „Nachsprechen“. Wir reihen beim „zusammenhängenden Sprechen“ dann die Worte aneinander, indem wir mit der Innervation des nächsten Wortes warten, bis das Klangbild oder die Sprachbewegungsvorstellung (oder beide) des vorigen Wortes angelangt ist. Die Sicherheit unseres Sprechens erscheint so überbestimmt und kann den Ausfall des einen oder des anderen der bestimmenden Momente gut vertragen. Indes erklären sich aus diesem Wegfall der Korrektur durch das zweite Klangbild und durch das Sprachbewegungsbild manche Eigentümlichkeiten der — physiologischen und pathologischen — Paraphasie.

(3) Wir lernen buchstabieren, indem wir die visuellen Bilder der Buchstaben mit neuen Klangbildern verknüpfen, die uns indes an die bereits bekannten Wortklänge erinnern müssen. Das den Buchstaben bezeichnende Klangbild sprechen wir sofort nach, so daß der Buchstabe uns wiederum durch zwei Klangbilder, die sich decken, und zwei motorische Vorstellungen, die miteinander korrespondieren, bestimmt erscheint.

(4) Wir lernen lesen, indem wir das Nacheinander der Wortinnervations- und Wortbewegungsvorstellungen, die wir beim Sprechen der einzelnen Buchstaben erhalten, nach gewissen Regeln verknüpfen, so daß neue motorische Wortvorstellungen entstehen. Sobald letztere ausgesprochen sind, entdecken wir nach dem Klangbild dieser neuen Wortvorstellungen, daß uns beide Wortbewegungs- und Wortklangbilder, die wir so erhalten haben, längst bekannt und mit den während des Sprechens gebrauchten identisch sind. Nun assoziieren wir diesen buchstabierend gewonnenen Sprachbildern die Bedeutung, welche den primären Wortklängen zukam. Wir lesen jetzt mit Verständnis. Wenn wir primär nicht eine Schriftsprache, sondern einen Dialekt gesprochen haben, so müssen wir die beim Buchstabieren gewonnenen Wortbewegungsbilder und Klangbilder den alten superassoziieren und so eine neue Sprache erlernen, was durch die Ähnlichkeit von Dialekt und Schriftsprache erleichtert wird.

Aus dieser Darstellung des Lesenlernens ersieht man, daß dasselbe einen sehr komplizierten Vorgang ausmacht, dem ein wiederholtes Hin und Her der Assoziationsrichtung entsprechen muß. Man wird ferner darauf vorbereitet, daß die Störungen des Lesens bei der Aphasie in sehr verschiedenartiger Weise erfolgen müssen. Maßgebend für eine Läsion des visuellen Elementes beim Lesen wird bloß die Störung im Buchstabenlesen sein. Das Zusammensetzen der Buchstaben zu einem Worte geschieht während der Übertragung auf die Sprachbahn, es wird also bei motorischer Aphasie aufgehoben sein. Das Verstehen des Gelesenen erfolgt erst vermittelst der Klangbilder, welche die ausgesprochenen Worte ergeben, oder vermittelst der Wortbewegungsbilder, welche beim Sprechen entstanden sind. Es erweist sich also als eine Funktion, die nicht nur bei motorischer, sondern auch bei akustischer Läsion untergeht, ferner als eine Funktion, die unabhängig von der Ausführung des Lesens ist. Die Selbstbeobachtung zeigt jedermann, daß es mehrere Arten des Lesens gibt, von denen die eine oder andere auf das Verständnis des Lesens verzichtet. Wenn ich Korrekturen lese, wobei ich vorhabe, den visuellen Bildern der Buchstaben und anderen Schriftzeichen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, entgeht mir der Sinn des Gelesenen so sehr, daß ich für stilistische Verbesserungen der Probe einer besonderen Durchlesung bedarf. Lese ich ein Buch, das mich interessiert, z. B. einen Roman, so übersehe ich dafür alle Druckfehler, und es kann mir geschehen, daß ich von den Namen der darin handelnden Personen nichts im Kopfe behalte als einen verworrenen Zug und etwa die Erinnerung, daß sie lang oder kurz sind und einen auffälligen Buchstaben, ein x oder z, enthalten. Wenn ich vorlesen soll, wobei ich den Klangbildern meiner Worte und deren Intervallen besondere Aufmerksamkeit schenken muß, so bin ich wieder in Gefahr, mich um den Sinn zu wenig zu kümmern, und sobald ich ermüde, lese ich so, daß es zwar der andere noch verstehen kann, ich selbst aber nicht mehr weiß, was ich gelesen habe. Es sind dies Phänomene der geteilten Aufmerksamkeit, die gerade hier in Betracht kommen, weil das Verständnis des Gelesenen erst auf einem so weiten Umwege erfolgt. Daß von solchem Verständnis keine Rede mehr ist, wenn der Lesevorgang selbst Schwierigkeiten bietet, wird durch die Analogie mit unserem Verhalten beim Lesenlernen klar, und wir werden uns hüten müssen, den Wegfall eines solchen Verständnisses für Anzeichen einer Bahnunterbrechung zu halten. Das Lautlesen ist für keinen anderen Vorgang zu halten als das Leiselesen, außer daß es die Aufmerksamkeit von dem sensorischen Teil des Lesevorganges abziehen hilft.

(5) Wir lernen schreiben, indem wir die visuellen Bilder der Buchstaben durch Innervationsbilder der Hand reproduzieren, bis gleiche oder ähnliche visuelle Bilder entstanden sind. In der Regel sind die Schriftbilder den Lesebildern nur ähnlich und superassoziiert, da wir Druckschrift lesen und Handschrift schreiben lernen. Das Schreiben erweist sich als ein verhältnismäßig einfacher und nicht so leicht wie das Lesen zu störender Vorgang.

(6) Es ist anzunehmen, daß wir die einzelnen Sprachfunktionen auch späterhin auf denselben Assoziationswegen ausüben, auf welchen wir sie erlernt haben. Es mögen dabei Abkürzungen und Vertretungen stattfinden, aber es ist nicht immer leicht zu sagen, von welcher Natur. Die Bedeutung derselben wird noch durch die Bemerkung herabgesetzt, daß in Fällen von organischer Läsion der Sprachapparat wahrscheinlich als Ganzes einigermaßen geschädigt und zur Rückkehr zu den primären, gesicherten und umständlicheren Assoziationsweisen genötigt sein wird. Für das Lesen macht sich bei Geübten unzweifelhaft der Einfluß des „visuellen Wortbildes“ geltend, so daß einzelne Worte (Eigennamen) auch mit Umgehung des Buchstabierens gelesen werden können.

Das Wort ist also eine komplexe, aus den angeführten Bildern bestehende Vorstellung oder, anders ausgedrückt, dem Wort entspricht ein verwickelter Assoziationsvorgang, den die aufgeführten Elemente visueller, akustischer und kinästhetischer Herkunft miteinander eingehen.

Das Wort erlangt aber seine Bedeutung durch die Verknüpfung mit der „Objektvorstellung“, wenigstens wenn wir unsere Betrachtung auf Substantiva beschränken. Die Objektvorstellung selbst ist wiederum ein Assoziationskomplex aus den verschiedenartigsten visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen Vorstellungen. Wir entnehmen der Philosophie, daß die Objektvorstellung außerdem nichts anderes enthält, daß der Anschein eines „Dinges“, für dessen verschiedene „Eigenschaften“ jene Sinneseindrücke sprechen, nur dadurch zustande kommt, daß wir bei der Aufzählung der Sinneseindrücke, die wir von einem Gegenstande erhalten haben, noch die Möglichkeit einer großen Reihe neuer Eindrücke in derselben Assoziationskette hinzunehmen (J. S. Mill).1 Die Objektvorstellung erscheint uns also nicht als eine abgeschlossene, kaum als eine abschließbare, während die Wortvorstellung uns als etwas Abgeschlossenes, wenngleich der Erweiterung Fähiges erscheint.

Die Behauptung, die wir auf Grund der Pathologie der Sprachstörungen nun aufstellen müssen, geht dahin, daß die Wortvorstellung mit ihrem sensiheln Ende (vermittelst der Klangbilder) an die Objektvorstellung geknüpft ist. Wir gelangen somit dazu, zwei Klassen von Sprachstörung anzunehmen: (1) Eine Aphasie erster Ordnung, verbale Aphasie, bei welcher bloß die Assoziationen zwischen den einzelnen Elementen der Wortvorstellung gestört sind, und (2) eine Aphasie zweiter Ordnung, asymbolische Aphasie, bei welcher die Assoziation von Wort- und Objektvorstellung gestört ist.

Ich verwende die Bezeichnung Asymbolie in anderem Sinne, als seit Finkelnburg2 gebräuchlich ist, weil mir die Beziehung zwischen Wort- und Objektvorstellung eher den Namen einer „symbolischen“ zu verdienen scheint als die zwischen Objekt und Objektvorstellung. Störungen im Erkennen von Gegenständen, welche Finkelnburg als Asymbolie zusammenfaßt, möchte ich vorschlagen „Agnosie“ zu nennen. Es wäre nun möglich, daß agnostische Störungen, die nur bei doppelseitigen und ausgebreiteten Rindenläsionen zustande kommen können, auch eine Störung der Sprache mit sich ziehen, da alle Anregungen zum spontanen Sprechen aus dem Gebiet der Objektassoziationen stammen. Solche Sprachstörungen würde ich Aphasien dritter Ordnung oder agnostische Aphasien heißen. Die Klinik hat uns in der Tat einige Fälle kennen gelehrt, welche diese Auffassung fordern...

Sigmund Freud: Wortvorstellung

Fig. 8. *Psychologisches Schema der Wortvorstellung*
Die Wortvorstellung erscheint als ein abgeschlossener Vorstellungskomplex, die Objektvorstellung dagegen als ein offener. Die Wortvorstellung ist nicht von allen ihren Bestandteilen, sondern bloß vom Klangbild her mit der Objektvorstellung verknüpft. Unter den Objektassoziationen sind es die visuellen, welche das Objekt in ähnlicher Weise vertreten, wie das Klangbild das Wort vertritt. Die Verbindungen des Wortklangbildes mit anderen Objektassoziationen als den visuellen sind nicht eingezeichnet.


  1. J. St. Mill, Logik I, Kapitel III, und An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy.
  2. Nach Spamer (1876).