[Verschiedenheit des Aberglaubens Intelligenter und Beschränkter. Die bei letzteren häufig vorkommenden Formen des Aberglaubens. Einfluß des Bildungsstandes und besonderer Verhältnisse auf gewisse Varietäten des Aberglaubens.]


Nach dem Angeführten erscheint es wohl begreiflich, daß Mangel geistiger Kultur und Beschränktheit einen sehr günstigen Nährboden für die Einpflanzung und das Gedeihen des Aberglaubens bilden. Der unterrichtete Intelligente sucht seine Anschauungen in Einklang mit der Erfahrung zu bringen und verzichtet den Ansichten anderer gegenüber nicht auf den Gebrauch seines Urteilsvermögens. Der Beschränkte und Ungebildete macht sich die Anschauung seiner Umgebung und auch deren Aberglauben unbesehen zu eigen und hält an letzterem infolge seiner Urteilsschwäche mit einer Zähigkeit fest, als ob es sich um unumstößliche Wahrheiten handle. Doch bildet auch höhere Intelligenz keinen absoluten Schutz gegen Infektion mit Aberglauben. So erwähnt z. B. Dresslar (Am. Journal of Insanity, Okt. 1910), daß 10 von 11 Studenten daran glaubten, daß, wenn man ein Baby in einen Spiegel schauen lasse, es vor seinem 1. Geburtstag sterben werde. 23 von 30 Studenten glaubten daran, daß das Haar besser wachsen werde, wenn man es während des Neumondes schneiden lasse. Nicht einmal das Genie erweist sich ganz frei von diesem intellektuellen Unkraut. Doch ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Aberglauben, dem wir in den Kreisen der Intelligenz begegnen, und dem der Beschränkten und Ungebildeten.

Daß man an einem Freitag nichts Wichtiges unternehmen, zu Dreizehnt nicht an einem Tische sitzen soll, die Erwähnung erfreulicher gesundheitlicher Verhältnisse durch die Hinzusetzung des Wortes "unberufen" oder Klopfen auf den Tisch sozusagen sichern müsse, daß die Begegnung mit einem alten Weibe am frühen Morgen oder ein kleiner Unfall beim Aufstehen ein übles Vorzeichen für den betreffenden Tag bilde, sind Variationen des Aberglaubens, denen wir in der besten Gesellschaft nicht selten begegnen. Wenn man der Sache jedoch auf den Grund geht, so zeigt es sich, daß es sich hier um Anschauungen handelt, an denen man nicht deshalb festhält, weil man sie für unanfechtbar erachtet, sondern weil man die Mühe scheut, sich davon loszumachen.

Anders verhält es sich mit dem Aberglauben des intellektuell tiefer Stehenden und Ungebildeten. Dieser ist von der Begründetheit seiner abergläubischen Vorstellungen überzeugt, welche eine unübersehbare Menge von Angelegenheiten und Vorkommnissen des alltäglichen Lebens, wie außergewöhnliche Zufälle betreffen. Hier finden wir den Teufels- und Hexenglauben in der rohesten Form, den Glauben an Gespensterspuk, Sympathiemittel der abenteuerlichsten Art, die Zauberkraft von Leichenteilen, Wahrsagekünste durch Bleigießen, Kartenschlagen, die Vorbedeutung gewisser Träume usw. Die kursierenden Varietäten des Aberglaubens wechseln zum Teil wenigstens mit dem Stand der Allgemeinbildung und besonderen Verhältnissen. Der Hexenaberglaube war bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts allgemein verbreitet und wurde selbst von den Gebildetsten geteilt. In Bayern fanden die letzten Hexenhinrichtungen 1754 und 1756, in Glarus 1785, in Posen 1793 statt. Die Strafbestimmungen gegen Hexerei wurden in Bayern offiziell erst durch das Strafgesetz vom Jahre 1813 aufgehoben. Mit der Einführung des Lottos in Bayern und während des Bestehens dieser Einrichtung gewann der Aberglaube von der Bedeutung gewisser Träume eine ganz außerordentliche Verbreitung. Alle möglichen Traumerscheinungen hatten einen bestimmten Zahlenwert, und die Traumbücher, welche die Übersetzung der Träume in Zahlen lehrten, waren sehr verbreitet. Die Abschaffung des Lottos hat dieser Form törichtsten Aberglaubens bei uns den Boden entzogen.


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