[Momente, welche die geistige Entwicklung des Einzelindividuums beeinträchtigen. Die Bedeutung des Mangels von Schulkenntnissen. Einpflanzung törichter Vorstellungen. Verkehrtheit der Erziehung. Ungeeignete Unterrichtsmethoden.]


Über den Anteil, welchen an dem intellektuellen Verhalten des Erwachsenen die angeborene Veranlagung und äußere Faktoren (Milieu, Erziehung, Unterricht, Lebensschicksale) haben, gehen heutzutage die Ansichten noch erheblich auseinander. Darüber besteht jedoch keine Meinungsverschiedenheit, daß die in Frage stehenden Momente je nach ihrer Art auf die geistige Entwicklung des Individuums in günstigem wie in ungünstigem Sinne einzuwirken imstande sind. Es liegt nahe, daß der Schaden, welchen ungünstige äußere Einflüsse nach sich ziehen, in den Einzelfällen je nach dem Grad der Begabung, schwankt. Talente für einzelne Leistungen können bei Mangel an Übung und Anregung verkümmern, aber eine treffliche intellektuelle Allgemeinbegabung gelangt auch unter widrigen äußeren Verhältnissen zum Durchbruch; eine solche kann nie zum Niveau der Dummheit herabgedrückt werden. Dies ist nur bei der allerdings weit vorherrschenden mittelmäßigen Veranlagung der Fall, und selbstverständlich kann eine von Haus aus bestehende Beschränktheit durch Momente, welche die geistige Entwicklung beeinträchtigen, gesteigert werden. In letzteren Fällen darf man von Verdummung sprechen.

Unter den Momenten, welche in dieser Richtung von Bedeutung sind, haben wir den Einfluß des Milieus bereits an früherer Stelle berührt. Vernachlässigung der Erziehung und des Unterrichts haben besonders schwerwiegende Folgen. Erstere wirkt namentlich in dem vorschulpflichtigen Alter unheilvoll, da die Volksschule neben dem eigentlichen Unterricht auch eine erzieherische Tätigkeit ausübt. Man mag den Wert der in der Volksschule erworbenen Kenntnisse für das Leben höher oder geringer einschätzen, unzweifelhaft bildet schon ihr Erwerb für das heranwachsende Kind ein wertvolles Gut, da derselbe die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten durch Übung fördert. Der Besitz einzelner in der Schule erworbener Kenntnisse, so speziell der des Lesens, ist jedoch von größerer Tragweite. Wenn bei uns auch viele Menschen, namentlich auf dem Lande, von ihrer Kenntnis des Lesens wenig Gebrauch machen, so darf man doch die Bedeutung derselben für den Bildungszustand der Massen und ihr intellektuelles Niveau nicht unterschätzen. Der Lesekundige ist imstande, seinen Vorstellungsschatz durch Lektüre ständig zu vermehren, neue Ideen in sich aufzunehmen und seine Anschauungen über die verschiedensten Gegenstände zu erweitern und zu verbessern, wodurch sein geistiger Horizont vergrößert und seine Urteilsfähigkeit gesteigert wird. Dieser Weg zur Hebung des intellektuellen Vermögens ist dem Leseunkundigen verschlossen.

Ähnlich nachteilig, wie Vernachlässigung, wirkt verkehrte Erziehung. Vor allem kommt hier die Einpflanzung von törichten und abergläubischen Vorstellungen und von Vorurteilen in Betracht. Die Schauergeschichten von Hexen und Gespenstern, vom Wauwau und anderen mystischen Ungeheuern, mit denen einfältige Mütter und Dienstboten die Kinder zum Teil zu unterhalten, zum Teil zu schrecken suchen, wirken nicht nur dadurch schädlich, daß sie die Phantasie der Kleinen vergiften und Ängstlichkeit hervorrufen, sondern auch dadurch, daß sie die Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit fördern.

Auch durch unvernünftige Strenge in der Erziehung, das Verlangen unbedingten Gehorsams in allen Angelegenheiten und Unterdrückung jeder selbständigen Regung kann die geistige Entwicklung des Kindes beeinträchtigt werden. Durch dieses System wird in dem Kinde die Neigung zum eigenen Nachdenken und selbständigen Urteil erstickt, es wird daran gewöhnt, medianisch das zu tun, was man von ihm erwartet, und so zur Maschine, statt zu einem denkenden Wesen ausgebildet. Verdummend wirkt auch das System der allzugroßen Güte und Schonung, das namentlich von Müttern öfters geübt wird, die Gepflogenheit, dem Kind durch Nachhilfe eigenes Denken zu ersparen und die an seine Leistungsfähigkeit zu stellenden Anforderungen möglichst herabzuschrauben. Schwachbefähigte Kinder, bei denen es besonders wichtig ist, durch Übung die Entwicklung der intellektuellen Gaben zu fördern, werden dadurch besonders geschädigt, da die bei denselben gewöhnlich von Haus aus schon bestehende Neigung zur Denkträgheit hierdurch gesteigert wird. auch verkehrte Unterrichtsmethoden, Überladung des Gedächtnisses mit totem Material und Vernachlässigung der Denkübungen können dem jugendlichen Geist schaden.


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