[Territoriale Unterschiede in der Verbreitung einzelner Formen des Aberglaubens. Der Glaube an den bösen Blick. Das Wahrsagegeschäft in den Großstädten. Die sogenannten Somnambulenkabinette.]


In Bezug auf die Verbreitung einzelner Varietäten des Aberglaubens zeigen sich bemerkenswerte territoriale Unterschiede. So ist der Vampirglaube, der in Deutschland sich jedenfalls nur noch ganz sporadisch findet, in den südslavischen Ländern noch ziemlich verbreitet. Der Glaube an den bösen Blick ist meines Wissens in Deutschland überhaupt nicht mehr anzutreffen, während er in Italien, insbesondere Süditalien, den südslavischen Ländern und im Orient noch in vollster Blüte steht. In Süditalien findet sich dieser Aberglaube in allen Schichten der Bevölkerung und man sucht mit den verschiedensten Mitteln, insbesondere der sogenannten gettatura (Ausstrecken des Zeige- und Kleinfingers) gegen die Macht des mal'occhio sich zu schützen1). Es ist auch nicht zu leugnen, daß die rohesten und bedenklichsten Formen des Aberglaubens sich ganz vorwaltend auf dem Lande und in von der Kultur noch weniger beleckten Gegenden finden. In Bezug auf den Glauben an Wahrsagekünste besteht dagegen kaum ein Unterschied zwischen Stadt und Land. Die Strafbestimmungen, welche unsere Gesetze gegen Gaukelei enthalten, verhindern nicht, daß sich selbst in unseren Großstädten noch Personen finden, die das Wahrsagegeschäft in der einen oder anderen Form berufsmäßig treiben und zum Teil eines lebhaften Zuspruches auch aus den sogenannten gebildeten Kreisen sich erfreuen. In den außerdeutschen Großstädten ist es in diesem Punkte keineswegs besser, nur daß hier zum Teil auch der Weg des Inserates zur Anpreisung von Wahrsagekünsten benutzt wird. So fand ich in amerikanischen Zeitungen häufig Inserate, in welchen Madame X. oder Y. sich als Schülerin der berühmten Lenormand zum Wahrsagen über Zukünftiges wie Vergangenes anbietet. In Paris wird das Wahrsagegeschäft vielfach in sogenannten Somnambulenkabinetten in recht lukrativer Weise betrieben. Die Wahrsagerinnen befassen sich gewöhnlich auch noch mit der Heilung von Krankheiten. Gilles de la Tourette hat in seinem Werke über den Hypnotismus mehrere Prospekte von Somnambulen mitgeteilt, aus denen ersichtlich ist, welcher Künste sich diese Personen rühmen und auf welches Maß von Aberglauben man auch in der Pariser Bevölkerung noch rechnen darf. Wir lassen zwei dieser Prospekte in Übersetzung folgen.

 

MME MARIE

berühmte hellseherische Somnambule.

Diplomiert.

Zu konsultieren für Krankheiten und Nachforschungen jeder Art.

Künftiges aus der Hand.

Kartenschlagen. Ratschläge und Aufschlüsse.

Empfangszeit täglich von 9 Uhr morgens bis 7 Uhr abends.

Mäßige Preise.

Sie sagt den Personen, die sie mit ihrem Vertrauen beehren, was ihnen bevorsteht, was sie zu fürchten und zu hoffen haben.

Erleichterung und Heilung durch den Magnetismus.

Beratung in der Wohnung und schriftlich.



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Sicherheit, Fortschritt, Wissenschaft.

MME CHARLES.

Somnambule I. Klasse von Geburt.

Mitglied und Inhaberin der Medaille des elektro-magnetischen Institutes von Frankreich. Mitglied mehrerer gelehrter und humanitärer Gesellschaften etc.

Hat die Ehre, diejenigen Personen, die sie mit ihrem Vertrauen beehren wollen, zu benachrichtigen, daß sie bei ihr alle Aufklärung finden werden, die für ihre Stellung nützlich und notwendig sind ...

Obwohl sie sich gewöhnlich nicht mit Kartenschlagen befaßt, ist die Dame doch bereit, die Personen, die es wünschen, damit zu bedienen. Sie liest in gleicher Weise aus der Physiognomie, wie aus den Linien der Hand, eine Leistung, die ihr mehrere auszeichnende Erwähnungen eingetragen hat.

Experimentalsitzungen über Phrenologie.

Schlafsitzungen zu jeder Stunde zu reduzierten Preisen.

Im Salon der MME CHARLES sieht man die Person, die man liebt und diejenige, von der man geliebt wird.


So bedeutungsvoll auch die Beschränktheit für das Gedeihen von Aberglauben ist, so darf man doch nicht annehmen, daß die Ausbreitung des letzteren einen sicheren Index für die Durchschnittsintelligenz einer bestimmten Bevölkerung bildet. Wenn z. B. beim süditalienischen Landvolk sich zurzeit noch weit mehr Aberglaube findet, als bei dem süddeutschen, so darf daraus nicht gefolgert werden, daß der durchschnittliche süddeutsche Bauer intellektuell erheblich über dem süditalienischen steht. In einer gutgläubigen Bevölkerung kann durch klerikale Einflüsse die Ausbreitung und Erhaltung von Aberglauben verschiedenster Art begünstigt und direkt gefördert werden. Dies ist in Süditalien zweifellos noch weit mehr der Fall, wie in Süddeutschland. Hiezu kommt der Umstand, daß in Süditalien, speziell auf dem Lande, noch ein erheblicher Teil der Bevölkerung ohne Schulunterricht aufwächst (die Zahl der Analphabeten ist dort noch eine sehr bedeutende). Die Unwissenheit bildet aber ebenfalls einen Faktor, welcher die Infektion mit Aberglauben ebensosehr begünstigt, wie die Dummheit.

 

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1) Wie tief dieser Aberglaube sitzen mag, hierfür liefert eine Mitteilung Aschaffenburgs einen Beleg. Nach dieser wurde sogar dem Papste Pius IX. der böse Blick zugeschrieben, und man erzählte sich in Rom ganz öffentlich, daß die frommgläubigen Italiener, während sie von dem Papst den Segen empfingen, gleichzeitig hinter dem Rücken das Zeichen der gettatura machten.


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Seite zuletzt aktualisiert: 10.12.2009 
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