[Die Massendummheiten. Der Boulangismus und die Dreyfußaffäre in Frankreich.]


Der Einfluß der Masse macht sich aber nicht bloß geltend, wenn das Individuum mit anderen in großer Zahl versammelt ist; es genügt für viele Menschen, zu wissen, daß eine große Menge von Ihresgleichen dieses oder jenes tut oder glaubt, um ebenfalls dasselbe zu tun und zu glauben, ohne Prüfung, ob das Betreffende vernünftig ist oder nicht. Man spricht dann von psychischer Ansteckung, psychischen Epidemien. Bei diesen ist der Umstand bemerkenswert, daß es sich weit vorherrschend um die Übertragung von Torheiten handelt, da die intellektuelle Entwicklung der großen Menge für die Aufnahme solcher einen weif günstigeren Boden bildet, als für die unanfechtbarer Vorstellungen. Die Massendummheiten können alle Stände heimsuchen und im öffentlichen wie im privaten Leben hervortreten. Eine sehr bedenkliche Bedeutung haben dieselben schon öfters auf dem politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Gebiete erlangt. Es sei hier, soweit die Politik in Betracht kommt, an den Boulangismus in Frankreich, die Schwärmerei für einen Hohlkopf und Phrasenhelden, der die Menge lediglich durch sein Auftreten zu kaptivieren verstand, erinnert. Auf dem Gebiet der Rechtspflege hat die Dreyfußaffäre in einer geradezu phänomenalen Weise gezeigt, welche enorme Verbreitung und Zähigkeit gewisse Massendummheiten erlangen können. Die Dreyfußaffäre, ursprünglich eine reine Rechtsangelegenheit, bot chauvinistischen Elementen eine willkommene Veranlassung, auf die Massen des französischen Volkes erregend einzuwirken und denselben eine Reihe überaus törichter Vorstellungen, man könnte sagen Wahnideen, beizubringen. Diese hafteten, da die politische Leidenschaft ein vernünftiges Urteil unmöglich machte, Jahre hindurch, und nur ganz allmählich und auf Umwegen gelang es der Regierung, die geradezu läppischen Ideen, die sich in den Köpfen der Masse, zum Teil auch der Gebildeten über den Dreyfußfall festgesetzt hatten, zu überwinden.

Während des Weltkriegs hat die durch die politische Erregung verursachte Steigerung der Massensuggestibilität bei uns wie bei unseren Gegnern, bei letzteren allerdings noch in erheblicherem Maße, zur Verbreitung haltloser, zum großen Teile törichter Vorstellungen geführt. Es sei hier nur an die vielfach ins Lächerliche gehende Sucht Spione zu fangen, die sich bei uns in den ersten Kriegswochen geltend machte, erinnert, ferner an die Mähr von den von deutschen Truppen in Belgien verübten Greueln (Verstümmelung kleiner Kinder), die sich trotz aller Widerlegungen bei unseren Gegnern unausrottbar erhielt, an die namentlich in England verbreiteten Nachrichten von Hungerrevolten und ähnlichen Vorgängen in Deutschland.


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