[Die Lebensgewohnheiten der unteren Klassen.
Die Verbreitung des Wunder- und Aberglaubens.]


Wir haben uns im Vorhergehenden mit den Tatsachen beschäftigt, welche für eine Zunahme der Intelligenz der Massen sprechen oder wenigstens in diesem Sinne gedeutet wurden. Daneben mangelt es jedoch, wie wir schon an früherer Stelle bemerkten, nicht an Umständen, welche darauf hinzuweisen scheinen, daß das intellektuelle Niveau der Massen wenigstens seit einer Reihe von Jahrhunderten sich nicht wesentlich geändert hat. In erster Linie kommen hier die Lebensgewohnheiten des größeren Teils unserer und überhaupt der mitteleuropäischen Bevölkerung in Betracht. In der Art und Weise, wie der Einzelne seinem Beruf obliegt — wir haben hier speziell die Landwirtschaft und das Gewerbe im Auge —, zeigt sich wohl der Einfluß einer vorgeschrittenen Kultur bald in größerem, bald in geringerem Maße. Allein wir haben bereits gesehen, daß die Beschäftigung des Landmannes wie die des gewerblichen und industriellen Arbeiters im Großen und Ganzen auf eine Hebung des intellektuellen Niveaus nicht schließen läßt. Es erheischt ja beispielsweise kein höheres Maß von Verstandestätigkeit, wenn der Landmann unserer Tage eine Dreschmaschine gebraucht und der Handwerker mit verbesserten Arbeitsgeräten seine Erzeugnisse herstellt. Eine Beschäftigung, die nicht dem Erwerb oder der Erhaltung des Erworbenen dient, ein Streben nach höheren Genüssen, nach Bildung um dieser selbst willen finden wir dagegen bei dem überwiegenden Teile der unteren Volksschichten, besonders bei der ländlichen Bevölkerung noch immer wenig verbreitet. Wir müssen hier dahingestellt sein lassen, inwieweit dieser Übelstand mit unseren wirtschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt. Es will mir aber nicht scheinen, daß speziell die Art und Weise, in welcher der größere Teil unserer Landbevölkerung noch seine Sonn- und Feiertage feiert — Essen und Trinken spielen hier neben dem Kirchgang noch die Hauptrolle, insbesondere das Trinken — durch mißliche wirtschaftliche Zustände bedingt ist. Auch bei der städtischen Arbeiterbevölkerung ist nicht in Abrede zu stellen, daß das, was dieselbe für geistige Genüsse aufwendet, in keinem Verhältnis zu dem steht, was dem Götzen Alkohol geopfert wird, und dies ist um so bedauerlicher, als fast um den Preis eines Liter Bier heutzutage bedeutende Werke unserer und der ausländischen Literatur erworben werden können.

Auch die Verbreitung, welche der Wunderglaube, d. h. der Glaube an die Möglichkeit eines den Naturgesetzen nicht entsprechenden Geschehens durch Eingreifen übernatürlicher Mächte heutzutage noch besitzt, spricht gegen einen intellektuellen Fortschritt der Massen. Unter den religiösen Vorstellungen der alten Germanen spielte der Wunderglaube keine hervortretende Rolle, wenn sie auch geisterhafte Wesen annahmen, die, zwischen Menschen und Göttern stehend und mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, wohl imstande waren, Wunder zu vollbringen (Elfen, Riesen, Kobolde etc.). Durch die Einführung des Christentums, welche den Heiligen- und Reliquienkultus mit sich brachte, wurde die Ausbreitung des Wunderglaubens mächtig gefördert. Die Reliquienverehrung erreichte einen Grad, daß sich ein schwunghafter und sehr lukrativer Handel mit solchen Objekten entwickelte und sich lange Zeit erhalten konnte. Neben den Reliquien wurden aber auch den verschiedensten anderen Objekten, die geweiht worden waren oder von bestimmten Orten herrührten, Wunderkräfte zugeschrieben. Auch viele höhere geistliche Würdenträger und weltliche Machthaber (die Könige von Frankreich und England) standen im Rufe der Wundertätigkeit. Hat sich der Wunderglaube in diesem Umfange auch nicht erhalten, so ist doch nicht zu verkennen, daß er in der Psyche des Volkes noch immer tiefe Wurzeln besitzt und sich zum Teil in Formen äußert, wie im antiken Heidentum1). Im Museo nationale in Neapel findet sich im Souterrain ein Schrank, welcher die in den Tempeln von Pompeji gefundenen Votivgaben enthält. Wir sehen da die verschiedenen Körperteile in Ton abgebildet, Hände und Füße, Arme und Deine, Brüste, Köpfe und wachsstockartige Gebilde, welche, wie man mir sagte, den Uterus darstellen sollten. Ähnliche Abbildungen verschiedener Körperteile, zumeist aus Wachs gefertigt, fand ich als Votivgaben in verschiedenen Wallfahrtskirchen in Bayern und Tirol; nur waren daneben in letzteren auch die Krücken zahlreich vertreten, die ich unter den pompejanischen Votivgaben vermißte. Denjenigen, welche einzuwenden bereit sind, daß sich der Wunderglaube auf Gegenden mit rückständiger katholischer Bevölkerung beschränke, müssen wir erklären, daß sie sich in einem Irrtum befinden. Der Wunderglaube ist auch in den Ländern mit vorwaltend protestantischer Bevölkerung, wenn auch hier in etwas weniger naiven Formen, noch sehr verbreitet. Die Anhängerschaft, welche die Gebetsheilungen in Amerika, England und der Schweiz besitzen und die Revivals2) in Amerika, die zeitweilig einen epidemischen Charakter annahmen, sprechen hiefür zur Genüge, ebenso die Erörterungen über das "Wunder" in Björnsons3) Schauspiel "Über unsere Kraft", in welchen sich die durch einen Zufall in Sangs Haus geratene Gesellschaft von Geistlichen unter dem Vorsitz eines Bischofs ergeht.

An den Wunderglauben schließt sich der Aberglaube verschiedenster Art an, welcher ebenfalls unter den Massen heutzutage noch große Verbreitung besitzt und, wie wir gesehen haben, auf dem Boden der Beschränktheit in besonderem Maße gedeiht. Endlich kommt in Betracht, daß die religiösen Vorstellungen eines Teils der römisch- und griechisch-katholischen Bevölkerung sich in intellektueller Hinsicht nicht über den antiken Götterkultus erheben.

 

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1) Ich möchte nicht mißverstanden werden. Da der Wunderglaube allen positiven Religionen angehört, läßt sich aus dessen Bestehen allein noch kein Schluß auf die Intelligenz des Individuums ziehen. Ein Mensch, welcher theoretisch das Wunder für möglich hält, kann sich jedoch dem einzelnen Faktum gegenüber sehr skeptisch verhalten, und selbst die höchsten katholischen Kirchenbehörden sind in der Annahme von Wundern in neuerer Zeit sehr zurückhaltend geworden. Was wir als gegen einen Fortschritt der Intelligenz sprechend erachten, ist nicht die Fortexistenz des Wunderglaubens an sich, sondern die weitverbreitete Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit, mit welcher Wunder auch in Fällen angenommen werden, in welchen eine natürliche Erklärung des Sachverhalts völlig ausreicht, oder das in Frage stehende Faktum überhaupt nicht stattgefunden hat, wie bei den meisten Wunderheilungen.

2) Unter "Revival" (englisch wörtlich: Wiederaufleben) ist eine Bekehrungsversammlung zu verstehen; solche Versammlungen werden in Amerika sowohl in Kirchen, wie im Freien (camp-meetings) abgehalten. S. Weiteres in meinem Werke: "Hypnotismus, Handbuch der Lehre von der Hypnose und der Suggestion" S. 479.

3) Björnson: "Über unsere Kraft" S. 82.

Kröjer: "Ich habe es mir so gedacht: Das Übernatürliche ist in dem Grade ein ererbtes Bedürfnis in dem Menschen geworden, daß, wenn wir ihm auf die eine Weise wiederstehen —."

Blank: "So kommt es auf eine andere: Wie ich es mir gedacht habe."


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