[Der Einfluß der Gesellschaft. Lokale Unterschiede in der Verbreitung der Dummheit. Stadt- und Landbevölkerung.]


Auch das weitere Milieu des Individuums, die Gesellschaft, in welcher es aufwächst und lebt, der Bevölkerungskreis, dem es angehört, können die geistige Beschränktheit entschieden fördern. Ein wenig begabter Mensch wird durch den Verkehr mit intelligenten Personen veranlaßt, seine Geisteskräfte anzuspannen, irrige Ansichten zu beseitigen oder zu korrigieren, neue Ideen in sich aufzunehmen und so allmählich sein geistiges Niveau zu erhöhen. In der Gesellschaft stupider und geistesträger Menschen engt sich dagegen sein Gesichtskreis mehr und mehr ein. Die Indolenz seiner Gefährten wirkt auf ihn ansteckend, so daß er sich nur um das Nächstliegende und insbesondere seinen materiellen Genuß kümmert. Der Biertisch und die feucht fröhliche Geselligkeit, das Hinunterstürzen ungezählter Seidel, begleitet von ödem Klatsch über Nachbarn und Bekannte und von geistlosen Spaßen, das wird sein Ideal. Was ihm direkt einen Vorteil bringt oder wenigstens bringen mag, bestimmt allein sein Handeln. Mit dem Kirchenbesuche und der Beichte glaubt er all' seinen religiösen Pflichten Genüge zu leisten, und seine Lektüre, soweit von solcher bei ihm überhaupt die Rede sein kann, beschränkt sich auf ein kleines Parteiblättchen, dessen Inhalt seine Beschränktheit nur nährt. Berücksichtigt man den Einfluß, welchen das Milieu auf die geistige Verfassung des Einzelindividuums zu äußern vermag, so wird man nichts Befremdliches in der Annahme erblicken können, daß in der Verbreitung der Dummheit an einzelnen Orten Unterschiede bestehen mögen. In der Tat haben bisher auch einzelne Orte den zweifelhaften Ruhm genossen, als besondere Herde der Dummheit zu gelten. Außerdem wird vielfach bezüglich der Dummheit ein Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung zu Ungunsten letzterer angenommen. Man kann auch bei unbefangenster Beurteilung der Verhältnisse nicht bestreiten, daß die Dummheit auf dem Lande reichlicher vertreten ist, als in der Stadt; doch trifft dieser Unterschied nicht für die kleineren Städte zu, auch ist derselbe keineswegs allein durch die Einflüsse des Milieus bedingt. Man spricht heutzutage sehr viel von dem Zuge der Landbevölkerung nach der Großstadt, und es sind zweifellos zum großen Teil wenigstens intelligentere Elemente der Landbevölkerung, welche in den größeren Städten lohnendere Beschäftigung zu finden suchen, als ihnen in ihrer Heimat zuteil wird. Dadurch wird eine relativ größere Anhäufung — man könnte sagen Dichte — der Beschränktheit auf dem Lande herbeigeführt. Hiezu kommen nun die ungünstigen Einflüsse des Milieus und der Beschäftigung. Der Landbewohner befindet sich im Vergleiche zum Städter, speziell Großstädter, in einem Zustande geistiger Isolierung; die Gelegenheiten zu geselligem Verkehre und geistigem Austausche, die sich ihm bieten, sind gering und, was dabei noch besonders ins Gewicht fällt, er ist fast ausschließlich auf die Gesellschaft von Seinesgleichen, von Personen, welche die gleichen beschränkten Interessen, die gleichen Anschauungen und Vorurteile besitzen, angewiesen. Ist schon hierdurch für ihn ein Mangel geistiger Anregung gegeben, so wird der Einfluß dieses Moments noch verstärkt durch die Einförmigkeit der Umgebung, in der er sich bewegt, und das Fehlen von Veranstaltungen, welche der Befriedigung ideeller Bedürfnisse dienen (Theater, Konzerte, Bibliotheken1). Es ist zwar nicht zu leugnen, daß der städtische Arbeiter von diesen Bildungsmitteln zurzeit noch wenig Gebrauch macht und dies z.T. aus materiellen Gründen; allein trotzdem mangelt es ihm nicht an geistig anregenden Momenten, welche dem Landbewohner fehlen. Ein Gang durch eine Reihe von Straßen mit ihrer Mannigfalt von Läden, die Betrachtung der in den Geschäftsauslagen befindlichen Gegenstände, der Kunstwerke und anderer Sammlungen in Museen und Galerien, der Verkehr auf den Straßen, die Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt etc., alles dies muß seinen Gesichtskreis erweitern. Die Beschäftigung des Landmannes ist ebenfalls zumeist nicht geeignet, seine geistige Regsamkeit zu fördern, sofern sie im allgemeinen mehr große Kraft und Ausdauer der Leistung, als Geschicklichkeit erheischt und in althergebrachten Bahnen sich bewegt.

 

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1) Inbezug auf Bibliotheken liegen die Verhältnisse gegenwärtig etwas günstiger, als früher, soferne durch die Volksbildungsvereine auch auf dem Lande vielfach die Errichtung kleiner Bibliotheken erzielt wurde.


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