1. Das Weltbild im allgemeinen.


Die durch die Notwendigkeit der Anpassung an die Umgebung bedingte Fähigkeit, Eindrücke aufzunehmen und die Eigenartigkeit des seelischen Mechanismus, immer ein Ziel zu verfolgen, legen den Gedanken nahe, daß das Weltbild und die ideale Leitlinie eines Menschen schon sehr frühe in der Seele des Kindes entstehen muß, nicht geformt und nicht mit einem Ausdruck faßbar, aber irgendwie in Sphären schwebend, die uns bekannt anmuten, die wir verständlich finden, die immer im Gegensatz zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit stehen. Seelische Bewegungen können sich nur abspielen, wenn ein Ziel vorschwebt. Seine Errichtung setzt, wie bekannt, notwendig Bewegungsmöglichkeit bzw. Bewegungsfreiheit voraus. Und die Bereicherung, die durch alle Bewegungsfreiheit zustandekommt, ist nicht zu unterschätzen. Ein Kind, das sich zum erstenmal vom Boden erhebt, kommt in diesem Augenblick in eine ganz neue Welt, es empfindet irgendwie eine feindliche Atmosphäre. Es kann in der Kraft, mit der es sich auf die Füße stellt, eine verstärkte Hoffnung für seine Zukunft empfinden, bei seinen ersten Bewegungsversuchen, besonders beim Gehenlernen, verschieden große oder gar keine Schwierigkeiten haben. Solche Eindrücke, Ereignisse, die uns Erwachsenen oft als unbedeutende Kleinigkeiten erscheinen, nehmen einen ungeheuren Einfluß auf das kindliche Seelenleben und damit vor allem auf die Entstehung seines Weltbildes. So werden Kinder, die in der Bewegung Schwierigkeiten hatten, gewöhnlich ein Idealbild vor Augen haben, das stark mit raschen Bewegungen durchsetzt ist, was sich leicht erkennen läßt, wenn man sie nach ihren Lieblingsspielen oder nach ihrer Berufswahl fragt. Die Antwort (Kutscher, Schaffner u. dgl.) wird bedeuten, daß in ihnen die Sehnsucht lebt, über alle Schwierigkeiten mangelnder Bewegungsfreiheit hinwegzukommen, an einen Punkt zu gelangen, wo sie kein Gefühl der Minderwertigkeit, der Zurückgesetztheit haben, welches Gefühl ja besonders genährt werden kann, wenn sich Kinder langsam oder krankhaft entwickeln. Ebenso oft wird man finden, daß Kinder, die infolge fehlerhafter Augen die Welt nur mangelhaft wahrnehmen können, das Bestreben haben, das Sehbare der Welt stärker und intensiver zu erfassen, und daß Kinder mit Empfindlichkeiten der Ohren oft nur für gewisse Töne, die lieblicher klingen, Interesse, Verständnis und Vorliebe haben, kurz, daß sie musikalisch sind (Beethoven).

Von den Organen, mittels deren sich das Kind der Umwelt zu bemächtigen sucht, sind es hauptsächlich die Sinnesorgane, welche Beziehungen unlösbarer Art zur Außenwelt herstellen. Sie sind es, die ein Weltbild aufbauen helfen. Vor allem ist hier das Auge zu nennen, dem sich die Umwelt entgegenstellt. Es ist vorwiegend die sehbare Welt, die sich dem Menschen besonders aufdrängt und die Hauptstütze für seine Erfahrung abgibt. So entsteht das visuelle Weltbild, dessen unvergleichliche Bedeutung darin liegt, daß es dauernde, stets unveränderliche Objekte zur Verfügung hat gegenüber den andern Sinnesorganen, die zumeist auf vergängliche Reizquellen angewiesen sind, wie das Ohr, die Nase, die Zunge und zum großen Teil die Haut. In anderen Fällen tritt wieder das Gehörorgan stärker hervor und schafft ein Seelenvermögen, das mehr mit dem Hörbaren der Welt rechnet (akustische Psyche). Seltener sind die Motoriker, Menschen, die auf Bewegungsvorgänge eingestellt sind. Eine Überbetonung des Geruchs- und Geschmacksvermögens bringt wieder andere Typen hervor, von denen insbesondere der erstere Typus durch seine Geruchsbegabung in unserer Kultur schlecht gestellt ist. Dann gibt es eine große Anzahl Kinder, bei denen die Bewegungsorgane eine große Rolle spielen. Die einen kommen mit einer größeren Regsamkeit zur Welt, sie sind immer in Bewegung und später immer zur Tätigkeit gedrängt; ihr Sinn ist vorwiegend auf Leistungen gerichtet, zu deren Vollbringung die Muskulatur in Bewegung gesetzt werden muß. Selbst im Schlaf wird dieser Tätigkeitsdrang nicht ruhen und man wird oft beobachten können, wie sie sich unruhig im Bett herumwälzen. Hierher gehören auch die »zappeligen« Kinder, deren Ruhelosigkeit ihnen oft als Fehler angerechnet wird. — Im allgemeinen gibt es fast keine Kinder, die sich nicht sowohl mit Augen und Ohren, wie auch mit ihren Bewegungsorganen dem Leben gegenüberstellen, um aus den Eindrücken und aus den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, ihr Weltbild aufzubauen, und wir können einen Menschen nur verstehen, wenn wir auch wissen, mit welchem Organ er dem Leben am unvermittelsten gegenübersteht. Denn alle Beziehungen gewinnen hier an Bedeutung und gewinnen Einfluß auf die Gestaltung des Weltbildes und damit auf die spätere Entwicklung des Kindes.


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