8. Typen der Fehlschläge


Ich gehe nur mit großer Vorsicht an eine Typenlehre heran, da sich dabei leicht bei dem Lernenden die Täuschung einschleicht, als ob ein Typus etwas fest Gefügtes, etwas Selbständiges sei, dem mehr zugrunde liegt als eine im großen und ganzen ähnliche Struktur. Macht er dabei halt und glaubt, wenn er das Wort Verbrecher hört, oder Angstneurose oder Schizophrenie, daß er schon etwas vom individuellen Fall erfaßt hat, dann schneidet er sich nicht nur die Möglichkeit individueller Forschung ab, sondern er wird aus den Mißverständnissen, die zwischen ihm und dem Behandelten entstehen, nie herauskommen. Vielleicht die besten Einsichten, die ich aus der Beschäftigung mit dem Seelenleben gewonnen habe, stammen aus meiner Vorsicht in der Benützung der Typenlehre. Eine Benützung, die freilich nicht ganz umgangen werden kann, die uns das Allgemeine, etwa die generelle Diagnostik ermöglicht, uns aber über den speziellen Fall und seine Behandlung wenig sagen kann. Am besten tut, wer sich stets erinnert, daß wir es in jedem Falle eines Fehlschlages mit Symptomen zu tun haben, Symptomen, die aus einem speziellen, zu suchenden Minderwertigkeitsgefühl zu einem Überlegenheitskomplex erwachsen sind, angesichts eines exogenen Faktors, der mehr Gemeinschaftsgefühl erfordert hat, als das Individuum aus seiner Kindheit vorrätig hat.

Beginnen wir mit den »schwer erziehbaren Kindern«. Man spricht von diesem Typus natürlich nur, wenn es sich durch längere Zeit gezeigt hat, daß ein Kind sich nicht als gleichberechtigter Teilnehmer zur Mitarbeit einstellt. Es fehlt das Gemeinschaftsgefühl, obwohl man gerechter Weise gezwungen ist festzustellen, daß ein für durchschnittliche Verhältnisse zureichendes Gemeinschaftsgefühl nicht selten infolge ungerechter Anspannung im Hause oder in der Schule sich als nicht mehr ausreichend erweist. Dieser Fall ist häufig und allgemein in seinen Erscheinungen bekannt. Wir können daraus etwas über den Wert der individualpsychologischen Forschung erkennen, um für schwierigere Fälle vorbereitet zu sein. Eine Prüfung des Individuums, experimentell, graphologisch, kurz losgelöst von seiner Umgebung, kann zu großen Irrtümern Anlaß geben und berechtigt keinesfalls, dem so losgelösten Individuum spezielle Vorschläge zu machen oder es irgendwie zu klassifizieren. An solchen und ähnlichen Tatsachen wird es klar, daß der Individualpsychologe sich eine zureichende Kenntnis aller möglichen sozialen Verhältnisse und Mißstände verschaffen muß, um richtig sehen zu können. Man kann noch weiter gehen und fordern, daß der Individualpsychologe eine Meinung von seinen Aufgaben, eine Meinung von den Forderungen des Lebens, eine Weltanschauung besitzen muß, die dem Wohle der Allgemeinheit zustrebt.

Ich habe eine Einteilung der schwer erziehbaren Kinder vorgeschlagen, die sich in mancher Hinsicht als nützlich bewährt: in mehr passive, wie faule, indolente, gehorsame aber abhängige, in schüchterne, ängstliche, lügenhafte und ähnliche Kinder und in mehr aktive, wie herrschsüchtige, ungeduldige, aufgeregte und zu Affekten neigende, in störende, grausame, prahlerische, in Davonläufer, diebische, sexuell leicht erregte usw. Man soll dabei nicht Haare spalten, sondern im einzelnen Fall versuchen, sich Gewißheit zu verschaffen, welchen Grad der Aktivität man ungefähr feststellen kann. Dies ist um so wichtiger, als man im Falle eines ausgewachsenen Fehlschlags ungefähr den gleichen Grad von fehlgeschlagener Aktivität erwarten und beobachten kann wie in der Kindheit. Den ungefähr richtigen Grad von Aktivität, der hier Mut heißt, wird man bei Kindern mit genügendem Gemeinschaftsgefühl finden. Bestrebt man sich diesen Grad der Aktivität im Temperament, in der Schnelligkeit oder Langsamkeit des Vorwärtsgehens aufzusuchen, so soll man nicht vergessen, daß auch diese Ausdrucksformen Teile des ganzen Lebensstiles sind, deshalb bei gelungener Besserung abgeändert erscheinen. Man wird nicht überrascht sein, unter den Neurotikern einen viel größeren Prozentsatz der passiven Kinderfehler, unter den Verbrechern der aktiven aufdecken zu können. Daß ein späterer Fehlschlag ohne Schwererziehbarkeit zustande kommen könnte, möchte ich einer fehlerhaften Beobachtung zuschreiben. Freilich können ausnahmsweise günstige äußere Verhältnisse das Auftauchen eines Kinderfehlers verdecken, der bei strengerer Prüfung sofort erscheint. Wir ziehen in jedem Fall die Prüfungen, die das Leben anstellt, allen experimentellen vor, weil dabei der Zusammenhang mit dem Leben nicht vernachlässigt ist.

Kinderfehler, die in den Bereich der medizinischen Psychologie gehören, finden sich, abgesehen von Fällen brutaler Behandlung, fast ausschließlich bei verwöhnten, abhängigen Kindern und können mit größerer oder geringerer Aktivität verbunden sein. So Bettnässen, Eßschwierigkeiten, nächtliches Aufschreien, Verkeuchen, Stuhlverhaltung, Stottern usw. Sie äußern sich wie ein Protest gegen das Erwachen zur Selbständigkeit und zur Mitarbeit und erzwingen die Unterstützung durch andere. Auch kindliche Masturbation, längere Zeit trotz der Entdeckung fortgesetzt, kennzeichnet diesen Mangel an Gemeinschaftsgefühl. Man wird nie genug getan haben, wenn man symptomatisch vorgeht und den Fehler allein auszurotten versucht. Der sichere Erfolg kann nur von einer Hebung des Gemeinschaftsgefühls erwartet werden.

Zeigen schon die mehr passiven Kinderfehler und Schwierigkeiten einen der Neurose verwandten Zug, die starke Betonung des »Ja«, die stärkere des »Aber«, so tritt der Rückzug von den Lebensproblemen in der Neurose ohne offene Betonung des Überwertigkeitskomplexes deutlicher hervor. Man kann stets ein Gebanntsein hinter der Front des Lebens beobachten, ein Entferntsein von der Mitarbeit oder ein Suchen nach Erleichterung und nach Ausreden für den Fall mangelnden Gelingens. Die dauernde Enttäuschung, die Furcht vor neuen Enttäuschungen und Niederlagen erscheint in dem Festhalten von Schocksymptomen, die das Fernbleiben von Lösungen der Gemeinschaftsprobleme sichern. Gelegentlich, wie häufig in der Zwangsneurose, gelangt der Kranke bis zu einem abgeschwächten Fluchen, das sein Mißfallen an den anderen verrät. Im Verfolgungswahn wird die Empfindung des Kranken von der Feindseligkeit des Lebens noch deutlicher sichtbar, so es einer im Fernbleiben von Lebensproblemen noch nicht gesehen hat. Gedanken, Gefühle, Urteile und Anschauungen laufen immer in der Richtung des Rückzuges, so daß jeder deutlich merken könnte: die Neurose ist ein schöpferischer Akt und kein Rückfall in infantile oder atavistische Formen. Dieser schöpferische Akt, dessen Urheber der Lebensstil ist, das selbstgeschaffene Bewegungsgesetz, immer in irgendeiner Form auf Überlegenheit hinzielend, ist es auch, der in den mannigfaltigen Formen, wieder entsprechend dem Lebensstil, der Heilung Hindernisse in den Weg zu legen trachtet, bis die Überzeugung, der Common sense beim Patienten die Oberhand gewinnt. Nicht selten ist das heimliche Ziel der Überlegenheit, wie ich aufgedeckt habe, in den halb trauervollen, halb tröstenden Ausblick hineinversteckt: was der Patient alles zustande gebracht hätte, wenn sein einzigartiger Aufschwung nicht durch eine Kleinigkeit, meist durch die Schuld der anderen, vereitelt worden wäre. Minderwertigkeitsgefühle höheren Grades, Streben nach persönlicher Überlegenheit und mangelndes Gemeinschaftsgefühl sind bei einiger Erfahrung in der Vorzeit des Fehlschlages stets zu finden. Der Rückzug von den Lebensproblemen wird vollständig im Selbstmord. In seiner seelischen Struktur liegt Aktivität, keineswegs Mut, ein aktiver Protest gegen nützliche Mitarbeit. Der Streich, der den Selbstmörder trifft, läßt andere nicht unverschont. Die vorwärtsstrebende Gemeinschaft wird sich immer durch Selbstmord verletzt fühlen.

Die exogenen Faktoren, die das Ende des zu geringen Gemeinschaftsgefühls herbeiführen, sind die von uns genannten drei großen Lebensprobleme, Gesellschaft, Beruf und Liebe. In allen Fällen ist es der Mangel an Anerkennung, der Selbstmord oder Todeswünsche herbeiführt, die erlebte oder gefürchtete Niederlage in einer der drei Lebensfragen, gelegentlich eingeleitet durch eine Phase der Depression oder der Melancholie. Der Beitrag der Individualpsychologie — als ich im Jahre 1912 meine Untersuchung über letztere seelische Erkrankung abgeschlossen hatte und feststellen konnte, daß jede echte Melancholie 1) wie Selbstmorddrohungen und Selbstmord den feindlichen Angriff auf andere bei zu geringem Gemeinschaftsgefühl darstellt — hat in der Folge den Weg zu besserem Verständnis dieser Psychose geebnet. So wie der Selbstmord, in den diese Psychose leider häufig mündet, ist sie die Setzung eines Verzweiflungsaktes an Stelle gemeinnütziger Mitarbeit. Verlust des Vermögens, einer Arbeitsstelle, Enttäuschung in der Liebe, Zurücksetzungen aller Art können diesen Verzweiflungsakt bei entsprechendem Bewegungsgesetz in einer Form herbeiführen, in der der Betroffene auch vor der Opferung von Angehörigen oder anderen nicht zurückschreckt. Dem psychologisch Feinhörigen wird nicht entgehen, daß es sich hier um Menschen handelt, die vom Leben leichter als andere enttäuscht werden, weil sie zuviel erwarten. Dem kindlichen Lebensstil nach dürfte man mit Recht erwarten, in ihrer Kindheit einen hohen Grad von Erschütterbarkeit zu finden mi t einer lang andauernden Verstimmung oder mit einem Hang zur Selbstbeschädigung, wie zur Bestrafung der anderen. Die im Vergleich mit der Norm viel größere Schockwirkung löst, wie neuere Untersuchungen bestätigt haben, auch körperliche Veränderungen aus, die wohl unter dem Einfluß des vegetativen und endokrinen Systems stehen dürften. Bei genauerer Untersuchung wird sich wohl, wie zumeist in meinen Fällen, nachweisen lassen, daß Organminderwertigkeiten und noch mehr ein verwöhnendes Regime in der Kindheit das Kind zu einem derartigen Lebensstil verleitet und die Entwicklung eines genügenden Gemeinschaftsgefühls eingeengt haben. Nicht selten ist bei ihnen ein offener oder versteckter Hang zu Zornausbrüchen, zur Meisterung aller kleinen und größeren Aufgaben in ihrer ganzen Umgebung, ein Pochen auf ihre Würde nachzuweisen.

Ein 17jähriger Junge, der jüngste in der Familie, von der Mutter außerordentlich verwöhnt, blieb, als die Mutter eine Reise antreten mußte, in der Obhut einer älteren Schwester zurück. Eines Abends, als die Schwester ihn allein zu Hause ließ, er gerade in der Schule mit scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, beging er Selbstmord. Er ließ folgendes Schreiben zurück. »Teile der Mutter nicht mit, was ich getan habe. Ihre derzeitige Adresse ist die folgende ... Sage ihr, wenn sie zurückkommt, daß mich das Leben nicht mehr gefreut hat, und daß sie mir alle Tage Blumen auf mein Grab legen soll.«

Eine alte, unheilbar Kranke beging Selbstmord, weil ihr Nachbar sich von seinem Radio nicht trennen wollte.

Der Chauffeur eines reichen Mannes erfuhr bei dessen Tod, daß er einen ihm versprochenen Erbteil nicht erhalten sollte, brachte seine Frau und seine Tochter um und beging Selbstmord.

Eine 56jährige Frau, die als Kind und später vo n ihrem Manne stets verwöhnt worden war, auch in der Gesellschaft eine hervorragende Rolle spielte, litt sehr unter dem Tod ihres Mannes. Ihre Kinder waren verheiratet und nicht sehr geneigt, sich der Mutter ganz zu widmen. Bei einem Unfall zog sie sich einen Schenkelhalsbruch zu. Sie blieb auch nach der Heilung der Gesellschaft ferne. Irgendwie kam ihr der Gedanke, auf einer Weltreise freundliche Anregungen zu finden, die sie zu Hause entbehrte. Zwei Freundinnen fanden sich bereit, mit ihr zu fahren. In größeren Städten des Kontinents ließen die Freundinnen sie wegen ihrer Schwerbeweglichkeit immer allein. Sie geriet in eine außerordentliche Verstimmung, die sich zu einer Melancholie steigerte, und rief eines ihrer Kinder herbei. Anstatt dessen kam eine Pflegeschwester, die sie nach Hause brachte. Ich sah die Frau nach dreijährigem Leiden, das keine Besserung gezeigt hatte. Ihre hauptsächliche Klage war, wie sehr die Kinder unter ihrer Krankheit leiden müßten. Die Kinder wechselten in ihren Besuchen ab, offenbarten aber, durch die Dauer des Leidens ihrer Mutter abgestumpft, kein übergroßes Interesse. Die Kranke äußerte stets Selbstmordideen und hörte nicht auf, von der übergroßen Sorgfalt der Kinder zu sprechen. Es war leicht zu sehen, daß die Frau mehr an Sorgfalt erfuhr als vor ihrer Erkrankung, auch daß ihre Anerkennung der Sorgfalt der Kinder mit der Wahrheit, besonders mit jener Hingebung, die sie als verzärtelte Frau erwartete, in Widerspruch standen. Versetzt man sich in ihre Person, so läßt sich begreifen, wie schwer es dieser Frau ankam, etwa auch noch auf diese durch die Krankheit so schwer erkaufte Sorgfalt zu verzichten.

Eine andere Art von Aktivität, nicht gegen die eigene Person gerichtet, sondern gegen andere, wird frühzeitig von Kindern erworben, die der Meinung verfallen, als ob die anderen ihre Objekte wären, und die dieser Meinung dadurch Ausdruck geben, daß sie durch ihre Haltung das Gut, die Arbeit, die Gesundheit und das Leben der anderen bedrohen. Wie weit sie dabei gehen, hängt wieder vom Grad ihres Gemeinschaftsgefühls ab. Und man wird im Einzelfall immer wieder diesen Punkt zu berücksichtigen haben. Es ist begreiflich, daß diese durch Gedanken, Gefühle und Stimmungen, durch Charakterzüge und Handlungen ausgedrückte Anschauung vom Sinn des Lebens, die nie in wohlgefaßten Worten zutage tritt, ihnen das wirkliche Leben mit seiner Forderung nach Gemeinschaft schwierig macht. Die Empfindung der Feindlichkeit des Lebens bleibt bei dieser stets sofort Befriedigung verlangenden, als berechtigt gefühlten Erwartung nicht aus. Dazu kommt, daß diese Stimmung sich enge mit dem Gefühl des Beraubtseins verbündet, wodurch Neid, Eifersucht, Habgier und ein Streben nach Überwältigung des gewählten Opfers dauernd und in hohem Grade wach bleiben. Da das Streben nach nützlicher Entwicklung im mangelhaften Gemeinschaftsgefühl zurückbleibt, die starken Erwartungen, genährt durch den Überlegenheitstaumel, unerfüllt bleiben, sind Affektsteigerungen oft der Anlaß zu Angriffen auf andere. Der Minderwertigkeitskomplex wird dauernd, sobald das Scheitern auf der Linie der Gemeinschaft, in der Schule, in der Gesellschaft, in der Liebe fühlbar wird. Die Hälfte der zur Verbrechens­ausübung gelangenden Menschen sind ungelernte Arbeiter und haben schon in der Schule versagt. Eine große Anzahl der eingelieferten Verbrecher leidet an Geschlechtskrankheiten, einem Zeichen unzureichender Lösung des Liebesproblems. Ihre Genossen suchen sie nur unter ihresgleichen und bekunden so die Enge ihrer freundschaftlichen Gefühle. Ihr Überlegenheitskomplex stammt aus der Überzeugung, ihren Opfern überlegen zu sein und bei richtiger Ausführung den Gesetzen und ihren Organen ein Schnippchen schlagen zu können. In der Tat, es gibt wohl keinen Verbrecher, der nicht mehr auf dem Kerbholz hätte, als man ihm nachweisen kann, ganz abgesehen von den immerhin zahlreichen Verbrechen, die nie aufgedeckt werden. Der Verbrecher begeht seine Tat in der Illusion, nicht entdeckt zu werden, wenn er es nur richtig anfaßt. Wird er überführt, so ist er ganz von der Überzeugung in Beschlag genommen, eine Kleinigkeit versäumt zu haben, derzufolge er entdeckt wurde. Verfolgt man die Spuren der Verbrechensneigung zurück in das kindliche Leben, so findet man neben der frühzeitigen übel angewandten Aktivität mit ihren feindseligen Charakterzügen und neben dem Mangel Gemeinschaftsgefühl Organminderwertigkeiten, Verwöhnung und Vernachlässigung als die verleitenden Anlässe zur Entwicklung des verbrecherischen Lebensstils. Verwöhnung ist der vielleicht häufigste Anlaß. So wie eine Besserung des Lebensstils niemals ausgeschlossen werden kann, ist es auch nötig, jeden einzelnen Fall auf den Grad seines Gemeinschaftsgefühls zu untersuchen und die Schwere des exogenen Faktors in Betracht zu ziehen. Niemand unterliegt der Gefahr der Versuchung so leicht wie ein verzärteltes Kind, das darauf trainiert ist, alles zu bekommen, was es will. Die Größe der Versuchung muß genau erfaßt werden, die für den mit Verbrechensneigung Behafteten sich um so gefährlicher auswirkt, als er über Aktivität verfügt. Auch im Falle des Verbrechens ist es klar, daß wir das Individuum in seiner Bezogenheit zu den gesellschaftlichen Zuständen erfassen müssen. In vielen Fällen könnte das vorhandene Gemeinschaftsgefühl genügen, einen Menschen vom Verbrechen fernzuhalten, wenn nicht allzu große Anforderungen an sein Gemeinschaftsgefühl gestellt werden. Dieser Umstand erklärt es auch, warum unter schlechten Verhältnissen die Zahl der Verbrechen eine namhafte Steigerung erfährt. Daß dieser Umstand nicht die Ursache des Verbrechens ist, zeigt die Tatsache, daß in den Vereinigten Staaten in der Zeit der Prosperität ebenfalls ein Anstieg der Verbrechenszahl zu verzeichnen war, da die Verlockungen zu leichtem und raschem Reichtumserwerb zahlreich waren. Daß man beim Suchen nach Ursachen der Verbrechensneigung auch auf das schlechte Milieu in der Kindheit stößt, daß man in bestimmten Bezirken einer Großstadt eine Anhäufung von Verbrechen findet, läßt keineswegs den Schluß zu, als hätte man damit die Ursache gefunden. Es ist vielmehr leicht einzusehen, daß unter diesen Bedingungen eine gute Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls nicht leicht zu erwarten ist. Man darf auch nicht daran vergessen, wie mangelhaft die Vorbereitung eines Kindes für sein späteres Leben ist, wenn es frühzeitig, sozusagen im Protest gegen das Leben, in Entbehrungen und Mangel aufwächst und täglich das bessere Leben der anderen vor sich, in seiner nächsten Nähe sieht, dabei auch in der Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühls keinerlei Förderung erfährt. Eine sehr gute, lehrreiche Illustration dazu gibt die Untersuchung des Dr. Young über die Verbrechensgestaltung in einer eingewanderten Sekte. In der ersten Generation, die abgeschlossen und dürftig lebte, gab es keinen Verbrecher. In der zweiten Generation, deren Kinder bereits die öffentlichen Schulen besuchten, aber noch immer in den Traditionen ihrer Sekte, in Frömmigkeit und Dürftigkeit erzogen waren, zeigte sich bereits eine größere Zahl von Verbrechern. In der dritten Generation gab es eine erschreckend große Zahl von solchen.

Auch der »geborene Verbrecher« ist eine abgetane Kategorie. Man wird zu solchen Irrtümern oder zur Idee des Verbrechers aus Schuldgefühl nur kommen können, wenn man unsere Ermittlungen nicht berücksichtigt, die immer wieder auf das schwere Minderwertigkeitsgefühl in der Kindheit, auf die Ausgestaltung des Überlegenheitskomplexes und auf das mangelhaft entwickelte Gemeinschaftsgefühl hinweisen. Man findet eine große Zahl von Organminderwertigkeitszeichen unter den Verbrechern, und in der Schockwirkung einer Verurteilung stärkere Schwankungen des Stoffgrundumsatzes als Wahrscheinlichkeitszeichen einer Konstitution, die schwerer als andere zum Äquilibrium gelangt. Man findet eine übergroße Zahl von Menschen, die verzärtelt wurden oder sich nach Verwöhnung sehnen. Und man findet ehemals vernachlässigte Kinder unter ihnen. Man wird sich immer von diesen Tatsachen überzeugen können, wenn man nur nicht mit einer Phrase, mit einer engen Formel an die Prüfung geht. Die Tatsache der Organminderwertigkeiten zeigt sich oft auffallend in der gelegentlichen Häßlichkeit von Verbrechern. Der stets zu erhärtende Verdacht auf Verwöhnung wird wach angesichts der vielen hübschen Menschen, die man unter ihnen findet.

N. war solch ein hübscher Bursche, der nach sechsmonatiger Haft auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde. Sein Delikt war Diebstahl. einer ansehnlichen Summe aus der Kasse seines Chefs. Trotz der großen Gefahr, bei einem weiteren Straffall seine dreijährige Haft absitzen zu müssen, stahl er nach kurzer Zeit wieder eine kleine Summe. Bevor die Sache ruchbar wurde, sandte man ihn zu mir. Er war der älteste Sohn einer sehr ehrbaren Familie, der verwöhnte Liebling seiner Mutter. Er zeigte sich äußerst ehrgeizig und wollte überall den Führer spielen. Freunde suchte er nur solche, die unter seinem Niveau standen, und verriet so sein Minderwertigkeitsgefühl. In seinen ältesten Kindheitserinnerungen war er stets der Empfangende. In der Stellung, in der er den großen Diebstahl verübte, sah er die reichsten Leute um sich, in einer Zeit, da sein Vater um seine Stellung gekommen war und für die Familie nicht wie sonst sorgen konnte. Flugträume und geträumte Situationen, in denen er der Held war, kennzeichnen sein ehrgeiziges Streben und zugleich sein Prädestinationsgefühl in bezug auf sicheres Gelingen. Bei einer verlockenden Gelegenheit erfolgte der Diebstahl in dem Gedanken, sich nun dem Vater überlegen zeigen zu können. Der zweite, kleine Diebstahl erfolgte im Protest gegen die Bewährungsfrist und gegen die untergeordnete Stellung, die er nun innehatte. Als er im Gefängnis war, träumte er einst, daß man ihm seine Lieblingsspeise vorgesetzt hätte, erinnerte sich aber im Traume, daß dies doch im Gefängnis nicht möglich sei. Man wird außer der Gier in diesem Traume leicht auch seinen Protest gegen das Urteil wahrnehmen können.

Weniger Aktivität wird man in der Regel bei Süchtigen finden. Umgebung, Verleitung, Bekanntschaft mit Giften wie Morphium und Kokain in Krankheiten oder im ärztlichen Beruf finden sich als Gelegenheiten, die sich aber nur in Situationen auswirken, in denen der Betroffene vor einem unlösbar erscheinenden Problem steht. Ähnlich wie beim Selbstmord, fehlt selten der verschleierte Angriff auf andere, denen die Sorge um den Befallenen zufällt. In der Trunksucht dürfte, wie ich gezeigt habe, eine besondere Geschmacks­komponente oft eine Rolle spielen, wie ja auch die totale Abstinenz sicherlich durch den Mangel an Wohlgefallen am Alkohol wesentlich erleichtert wird. Der Beginn der Süchtigkeit zeigt recht häufig ein schweres Minderwertigkeits­gefühl, wenn nicht einen entwickelten Überlegenheitskomplex, der sich vorher schon einigermaßen deutlich in Schüchternheit, Alleinsein, Überempfindlichkeit, Ungeduld, Reizbarkeit, in nervösen Symptomen wie Angst, Depression, sexueller Insuffizienz oder in einem Überlegenheits­komplex wie Prahlsucht, boshafter, kritischer Neigung, Machtlüsternheit usw. ausprägt. Auch übermäßiges Rauchen und Sucht nach starkem schwarzen Kaffee kennzeichnen oft die Stimmungslage einer mutlosen Entschlußlosigkeit. Wie mittels eines Tricks wird das lastende Minderwertigkeitsgefühl zeitweise beiseite geschoben oder sogar, wie zum Beispiel bei kriminellen Handlungen, in verstärkte Aktivität um gebaut. Alles Mißlingen kann in allen Fällen von Süchtigkeit dem unbesiegbaren Laster zugeschoben werden, sei es in gesellschaftlicher Beziehung, im Beruf oder in der Liebe. Auch die unmittelbaren Giftwirkungen geben dem Befallenen oft ein Gefühl der Entlastung.

Ein 26jähriger Mann, der acht Jahre nach einer Schwester zur Welt kam, wuchs unter günstigen Verhältnissen, außerordentlich verwöhnt und eigenwillig auf. Er erinnerte sich, daß er oft als Puppe verkleidet von Mutter und Schwester in den Armen gehalten wurde. Als er, vierjährig, für zwei Tage in die strengere Zucht seiner Großmutter kam, schnürte er bei ihrer ersten ablehnenden Bemerkung sein Bündel und wollte sich auf den Heimweg machen. Der Vater trank, worüber sich die Mutter sehr aufregte. In der Schule wirkte sich der Einfluß seiner Eltern allzusehr zu seinen Gunsten aus. Wie er es als vierjähriger Knabe getan, verließ er auch das Elternhaus, als mit der Zeit die Verwöhnung durch die Mutter nachließ. In der Fremde konnte er, wie so oft die verwöhnten Kinder, nicht rechten Fuß fassen und geriet bei gesellschaftlichen Zusammenkünften, im Berufsleben und Mädchen gegenüber stets in ängstliche Verstimmung und Aufregung. Er hatte sich mit einigen Leuten besser verstanden, die ihm das Trinken beibrachten. Als seine Mutter davon erfuhr und besonders davon hörte, daß er in trunkenem Zustand mit der Polizei in Konflikt geraten war, suchte sie ihn auf und bat ihn in bewegten Worten, vom Trinken abzulassen. Die Folge war, daß er nicht nur weiter im Trinken Erleichterung suchte, sondern damit auch die alte Sorge und Verwöhnung durch die Mutter noch über die frühere Höhe hinaus steigerte.

Ein 24jähriger Student klagte über ununterbrochenen Kopfschmerz. Schon in der Schule zeigten sich schwere nervöse Symptome von Platzangst. Es wurde ihm gestattet, das Abitur zu Hause abzulegen. Er war nachher in einem viel besseren Zustand. Im ersten Jahr des Universitätsstudiums verliebte er sich in ein Mädchen und heiratete. Kurz nachher setzten die Kopfschmerzen ein. Als Ursache bei diesem überaus ehrgeizigen, unglaublich verwöhnten Manne fand sich dauernde Unzufriedenheit mit seiner Frau und Eifersucht, die wohl deutlich aus seiner Haltung, auch aus seinen Träumen hervorging, die er sich aber nie recht deutlich gemacht hatte. So träumte er einst, daß er seine Frau wie zur Jagd gekleidet sah. Er hatte als Kind an Rachitis gelitten und erinnerte sich, daß er, wenn sich die Kinderfrau von ihm, der immer andere mit sich beschäftigte, Ruhe verschaffen wollte, ihn noch mit vier Jahren auf den Rücken legte, eine Lage, aus der er sich bei seiner Fettleibigkeit nicht allein erheben konnte. Als Zweitgeborener lebte er immer mit dem älteren Bruder in Konflikt und wollte immer der erste sein. Günstige Umstände verhalfen ihm später zu einer hohen Stelle, der er wohl geistig, aber nicht seelisch gewachsen war. In den unabwendbaren Aufregungen seiner Stellung griff er zum Morphium, dem er, mehrmals davon befreit, immer wieder zum Opfer fiel. Wieder kam als erschwerender Umstand für ihn seine grundlose Eifersucht ins Spiel. Als er in seiner Stellung unsicher wurde, beging er Selbstmord.

 

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1) Siehe A. Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, l. c.


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Seite zuletzt aktualisiert: 19.12.2009 
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