12. Erste Kindheitserinnerungen


Man mag von der Einheit des Ich noch so wenig wissen, man wird sie nicht los. Man kann das einheitliche Seelenleben nach verschiedenen, mehr oder weniger wertlosen Gesichtspunkten zergliedern, man kann zwei, drei, vier verschiedene räumliche Anschauungen miteinander, gegeneinander auftreten lassen, um das einheitliche Ich begreifen zu wollen, man kann es vom Bewußten, vom Unbewußten, vom Sexuellen, von der Außenwelt her aufzurollen versuchen — zum Schluß wird man nicht umhin können, es wieder, wie den Reiter auf dem Roß in seine allumfassende Wirksamkeit einsetzen zu müssen. Immerhin ist der Fortschritt, den die Individual­psychologie angebahnt hat, nicht mehr zu verkennen. Das »Ich« hat in der Anschauung der modernen Psychologie seine Würde durchgesetzt, und ob man es nun aus dem Unbewußten oder aus dem »Es« delogiert zu haben glaubt, das »Es« benimmt sich zum Schluß manierlich oder unmanierlich wie ein »Ich«. Auch daß das sogenannte Bewußte oder das Ich voll steckt von »Unbewußtem« oder, wie ich gezeigt habe, von Unverstandenem, daß es immer verschiedene Grade von Gemeinschaftsgefühl aufweist, wird mehr und mehr von der Psychoanalyse, die in der Individualpsychologie »einen Gefangenen gemacht hat, der sie nicht mehr losläßt«, begriffen und in ihr künstliches System gebracht.

Daß ich schon frühzeitig in meinen Bestrebungen, die undurchbrechbare Einheit des Seelenlebens klarzumachen, auf die Funktion und Struktur des Gedächtnisses stoßen mußte, ist begreiflich. Ich konnte die Feststellungen älterer Autoren bestätigen, daß das Gedächtnis keinesfalls als ein Sammelplatz von Eindrücken und Empfindungen anzusehen ist, daß nicht Eindrücke als »Mneme« haften, sondern daß wir es in dieser Funktion mit einer Teilkraft des einheitlichen Seelenlebens zu tun haben, des Ichs, das die Aufgabe hat, wie auch die Wahrnehmung sie hat, Eindrücke dem fertigen Lebensstil anzupassen und sie in seinem Sinne zu verwenden. Wollte man sich einer kannibalischen Ausdrucksweise bedienen, so könnte man sagen, die Aufgabe des Gedächtnisses ist, Eindrücke aufzufressen und zu verdauen. Daß man dabei nicht gerade an eine sadistische Neigung des Gedächtnisses zu glauben braucht, muß ich meinen Lesern nicht besonders auftragen. Der Verdauungsprozeß aber obliegt dem Lebensstil. Was ihm nicht schmeckt, wird verworfen, vergessen, oder als warnendes Exempel aufbewahrt. Der Lebensstil entscheidet. Ist er für Warnungen eingenommen, so verwendet er unverdauliche Eindrücke zu diesem Zweck. Man wird dabei an den Charakterzug der Vorsicht erinnert. Manches wird halb verdaut, zu einem Viertel, zu einem Tausendstel. Der Verdauungsprozeß kann aber auch in die Richtung gehen, nur die an den Eindrücken haftenden Gefühle oder Stellungnahmen, gelegentlich vermengt mit Wort- oder Begriffserinnerungen oder Anteilen derselben zu verdauen. Wenn ich den Namen einer mir sonst bekannten Person — es muß nicht immer eine mißliebige sein, sie muß mich nicht immer an Unliebsames erinnern, sie kann auch, was Namen oder Person betrifft, gerade in dieser Zeit oder immer außerhalb meines, durch den Lebensstil erzwungenen, Interesses liegen — vergesse, so weiß ich oft alles, was an dieser Person mir wichtig erscheint. Sie steht vor mir. Ich kann sie finden, vieles über sie aussagen. Gerade weil ich den Namen nicht erinnere, steht sie voll und ganz im Gesichtsfeld meines Bewußtseins. Das heißt: mein Gedächtnis kann in einer der oben geschilderten oder in anderer Absicht, Anteile des ganzen Eindruckes oder das Ganze des Eindruckes verschwinden lassen. Eine künstlerische Fähigkeit, die dem Lebensstil eines Menschen entspricht. Das Ganze des Eindruckes umfaßt also viel mehr als das in Worte gekleidete Erlebnis. Die individuelle Apperzeption liefert dem Gedächtnis die Wahrnehmung entsprechend der Eigenart des Individuums. Die Eigenart des Individuums übernimmt den so geformten Eindruck und stattet ihn mit Gefühlen und mit einer Stellungnahme aus. Letztere beide gehorchen wieder dem Bewegungsgesetz des Individuums. In diesem Verdauungsprozeß bleibt übrig, was wir Erinnerung nennen wollen, ob es sich nun in Worten, in Gefühlen oder in Stellungnahme zur Außenwelt ausdrückt. Dieser Prozeß umfaßt ungefähr das, was wir unter Funktion des Gedächtnisses verstehen. Eine ideale, objektive Reproduktion, unabhängig von der Eigenart des Individuums, existiert demnach nicht. Wir müssen deshalb damit rechnen, ebensoviele Formen von Gedächtnissen zu finden als wir Formen von Lebensstilen anerkennen.

Eines der häufigsten Beispiele einer bestimmten Lebensform und ihres Gedächtnisses soll diese Tatsache erläutern.

 

Ein Mann klagt in ärgerlicher Weise darüber, daß seine Frau »alles« vergißt. Als Arzt wird man zunächst an eine organische Erkrankung des Gehirns denken. Da dies in diesem Falle ausgeschlossen war, ging ich daran, unter vorläufiger Zurückstellung des Symptoms — eine Notwendigkeit, die viele Psychotherapeuten nicht verstehen —, mich in den Lebensstil der Patientin zu vertiefen. Sie stellte sich als eine ruhige, freundliche, verständige Person heraus, die unter Schwierigkeiten von seiten ihrer Schwiegereltern ihre Ehe mit dem herrschsüchtigen Manne durchsetzen konnte. Er ließ sie im Verlauf der Ehe oft ihre pekuniäre Abhängigkeit fühlen, ebenso ihre Herkunft aus einem niedrigen Stande. Meist ertrug sie seine tadelnden Belehrungen schweigend. Gelegentlich wurde auch von beiden Seiten die Frage einer Scheidung aufgeworfen. Die Möglichkeit einer ungebrochenen Herrschaft über die Frau hielt den herrschsüchtigen Mann immer wieder davon zurück.

Sie war das einzige Kind freundlicher, liebevoller Eltern, die nie etwas Tadelnswertes an ihrer Tochter fanden. Daß sie von Kindheit an ein Spiel, eine Beschäftigung ohne andere vorzog, erschien ihnen nicht als Fehler, um so weniger, da sie fanden, daß das Mädchen, wenn es einmal in eine freundliche Gesellschaft kam, sich tadellos benahm. Aber auch in der Ehe war sie darauf bedacht, sich ihr Alleinsein, ihre Lesestunden, ihre Muße, wie sie sagte, weder durch den Gemahl noch durch Gesellschaft zu sehr verkürzen zu lassen, während ihr Gatte lieber mehr Gelegenheit gehabt hätte, an ihr seine Überlegenheit zu erweisen. Es war übrigens ein Übereifer darin zu bemerken, wie sie ihre Hausfrauenpflicht erfüllte. Nur daß sie auffallend häufig vergaß, Aufträge ihres Mannes zu erfüllen.

Aus ihren Kindheitserinnerungen ging hervor, daß sie es immer als große Freude empfand, wenn sie allein ihre Obliegenheiten erfüllen konnte.

Der geschulte Individualpsychologe sieht auf den ersten Blick, daß ihre Lebensform für Leistungen, die sie allein erfüllen konnte, recht gut geeignet war. Nicht aber für eine Aufgabe zu zweit, wie die Liebe und die Ehe. Ihr Gatte war infolge seiner Eigenart nicht geeignet, ihr diese Fähigkeit beizubringen. Ihr Ziel der Vollkommenheit lag auf der Seite der Einzelarbeit. Dort benahm sie sich tadellos. Und wer nur diese Seite ins Auge faßte, hätte wohl keinen Fehler an ihr entdecken können. Für die Liebe aber und für die Ehe war sie nicht vorbereitet. Dort versagte ihr Mitgehen. Wir können, um nur ein Detail herauszuheben, daraus auch die Form ihrer Sexualität erraten: Frigidität. Jetzt können wir wieder an die Betrachtung des mit Recht zurückgestellten Symptoms gehen. Ja, wir verstehen es bereits. Ihr Vergessen war die wenig aggressive Form ihres Protestes gegen aufgezwungene Mitarbeit, für die sie nicht vorbereitet war, die auch außerhalb ihres Zieles der Vollkommenheit lag.

 

Es mag nicht jedermanns Sache sein, aus solchen kurzen Schilderungen das komplizierte Kunstwerk eines Individuums zu erkennen und zu verstehen. Die Lehre aber, die Freud und seine Schüler, die alle psychoanalysiert sein müssen, aus der Individualpsychologie zu ziehen trachten, als ob der Patient nach unserer Darstellung »nur« auffallen, mehr Interesse gewinnen wolle, ist mehr als bedenklich und verurteilt sich selbst.

Nebenbei: es wird oft die Frage aufgeworfen, ob ein Fall als leicht oder als schwer aufzufassen sei. Wir verstehen, daß die Entscheidung ganz von der Größe des vorhandenen Gemeinschaftsgefühls abhängt. Im vorliegenden Fall ist leicht zu verstehen, daß der Irrtum dieser Frau, ihre mangelnde Vorbereitung für Mitarbeit und Mitleben leichter zu vervollkommnen war, da sie sozusagen nur aus Vergeßlichkeit diesen wichtigsten Ausbau unterlassen hatte. Als sie überzeugt, und in Mitarbeit mit dem Arzte, in freundlicher Aussprache und bei gleichzeitiger Erziehung ihres Mannes durch den Arzt, ihren Hexenkreis (Kunkel nennt ihn in neckischer Abänderung Teufelskreis, Freud Zauberkreis) aufgelöst hatte, verschwand auch ihre Vergeßlichkeit, da dieser das Motiv entzogen war.

Wir sind nun vorbereitet zu verstehen, daß jede Erinnerung, soweit ein Erlebnis überhaupt das Individuum berührt, und nicht a limine abgewiesen wird, das Resultat der Bearbeitung eines Eindrucks durch den Lebensstil, durch das Ich darstellt. Dies gilt nicht nur für mehr oder weniger festgehaltene, sondern auch für mangelhafte, für schwer herauszuholende Erinnerungen, sowie auch für solche, deren sprachlicher Ausdruck verschwunden ist und nur als Gefühlston oder Stellungnahme festzustellen ist. Damit kommen wir zu einer verhältnismäßig wichtigen Einsicht, die besagt, daß jeder seelische Bewegungsvorgang in seiner Richtung nach dem Ziele der Vollkommenheit dem Verständnis des Betrachters dadurch nahe gebracht werden muß, daß er das gedankliche, das gefühlsmäßige und das stellungsmäßige Feld in der Erinnerung klarstellen muß. Wie wir bereits wissen, drückt sich das Ich nicht nur in der Sprache, sondern auch in seinen Gefühlen und in seiner Stellungnahme aus, und die Wissenschaft von der Einheit des Ichs verdankt ja der Individualpsychologie die Feststellung des Organdialekts. Wir halten den Kontakt mit der Außenwelt mit allen Fibern unseres Körpers und unserer Seele aufrecht. Uns interessiert an einem Fall die Art, besonders die mangelhafte Art, wie dieser Kontakt aufrecht erhalten wird. Und auf diesem Wege kam ich zu der reizvollen und wertvollen Aufgabe, die Erinnerungen eines Menschen, wie immer sie auftreten, als deutbare Anteile seines Lebensstils zu finden und zu verwerten. Daß mich dabei in erster Linie die als die ältesten Erinnerungen angesehenen interessieren, liegt darin, daß sie wirkliche oder phantasierte, richtige oder veränderte Geschehnisse beleuchten, die dem schöpferischen Aufbau des Lebensstils in den ersten Kinderjahren näherliegen, wohl auch zum großen Teile die Bearbeitung von Geschehnissen durch den Lebensstil verraten. Dabei obliegt uns weniger die Aufgabe, das Inhaltliche heranzuziehen, das ja für jedermann als Inhalt einfach zu verstehen ist, sondern dessen wahrscheinlichen Gefühlston zu ermessen, die erfolgende Stellungnahme und die Bearbeitung und Auswahl des Aufbaumaterials, letzteres, weil wir dabei das Hauptinteresse des Individuums entdecken, einen wesentlichen Bestandteil des Lebensstils. Dabei kommt uns die Hauptfrage der Individualpsychologie außerordentlich zustatten, die Frage, wo will dieses Individuum hinaus, welche Meinung hat dieses Individuum von sich und vom Leben? Wohl leiten uns bei dieser Betrachtung die ehernen Anschauungen der Individualpsychologie vom Ziele der Vollkommenheit, vom Minderwertigkeitsgefühl, dessen Erkenntnis (leider nicht dessen Verständnis, wie Freud anerkannt) heute bereits über die ganze Welt verbreitet ist, vom Minderwertigkeits-, vom Überwertigkeitskomplex, vom Gemeinschaftsgefühl und von den wahrscheinlichen Verhinderungen desselben — aber alle diese festgefügten Anschauungen dienen uns nur zur Beleuchtung des Gesichtsfeldes, in dem wir das individuelle Bewegungsgesetz des vorliegenden Individuums festzustellen haben.

Bei dieser Arbeit erhebt sich bei uns die skeptische Frage, ob wir in der Deutung von Erinnerungen und ihres Zusammenhangs mit dem Lebensstil angesichts der Vieldeutigkeit einzelner Ausdrucksformen nicht leicht fehlgehen können. Freilich, wer die Individualpsychologie mit rechter Künstlerschaft betreibt, dem versagen sich die Nuancen nicht. Aber auch er wird trachten, Irrtümer aller Art auszuschalten. Der Möglichkeiten gibt es genug. Hat er in der Erinnerung eines Individuums das wirkliche Bewegungsgesetz desselben gefunden, dann muß er das gleiche Bewegungsgesetz in allen anderen Ausdrucksformen wieder finden. Soweit es sich um die Behandlung von Fehlschlägen aller Art handelt, wird er so viele Bestätigungen nachweisen müssen, bis auch der Patient von der Richtigkeit des Nachweises überzeugt ist. Der Arzt selbst wird je nach seiner Eigenart bald früher bald später überzeugt sein. Es gibt aber kein anderes Maß, an dem er die Irrtümer, Symptome und den irrtümlichen Lebensgang eines Menschen messen könnte als das ausreichende Maß eines richtigen Gemeinschaftsgefühls.

Wir sind nun imstande, natürlich mit allergrößter Vorsicht und der größten Erfahrung ausgestattet, die fehlerhafte Richtung des Lebensweges, den Mangel an Gemeinschaftsgefühl, oder auch das Gegenteil, zumeist aus den ältesten Erinnerungen herauszufinden. Uns leitet da besonders unsere Kenntnis vom Mangel an Gemeinschaftsgefühl, von dessen Ursachen und dessen Folgen. Vieles leuchtet hervor aus der Darstellung in einer Wir- oder Ich-Situation. Vieles auch aus der Erwähnung der Mutter. Die Mitteilung von Gefahren oder Unfällen, auch von Züchtigungen und Strafen, deckt die übergroße Neigung auf, das Feindliche des Lebens besonders im Auge zu behalten. Die Erinnerung an die Geburt eines Geschwisters deckt die Situation der Entthronung auf, die an den ersten Besuch im Kindergarten oder in der Schule den großen Eindruck anläßlich neuer Situationen. Die Erinnerung an Krankheit und Tod ist oft mit der Furcht davor, öfters mit Versuchen verknüpft, etwa als Arzt oder als Pflegeperson oder ähnlich diesen Gefahren besser gewappnet entgegenzutreten. Erinnerungen an den Landaufenthalt mit der Mutter zeigen oft, ebenso wie Erwähnungen bestimmter Personen wie Mutter, Vater, Großeltern in einer freundlichen Atmosphäre, nicht nur den Vorzug dieser, offenbar verwöhnenden Personen, sondern auch den Ausschluß anderer. Erinnerungen an begangene Untaten, Diebstähle, sexuelle Vorkommnisse weisen gewöhnlich auf die große Anstrengung hin, sie weiterhin aus dem Erleben auszuschalten. Gelegentlich erfährt man auch andere Neigungen, die, wie eine visuelle, akustische, motorische Neigung, recht gut zur Aufdeckung von Schulmißerfolgen und fehlerhafter Berufswahl sowie zur Anweisung eines Berufs Anlaß geben können, der der besseren Vorbereitung fürs Leben besser entspricht.

Einige Beispiele mögen den Zusammenhang ältester Erinnerungen mit dem dauernden Lebensplan zu zeigen versuchen.

 

Ein etwa 32jähriger Mann, der älteste, verwöhnte Sohn einer Witwe, zeigt sich in jedem Beruf ungeeignet, weil er gleich im Beginne an schweren Angsterscheinungen erkrankt, die sich sofort bessern, wenn man ihn nach Hause bringt. Er ist ein gutmütiger Mensch, der sich aber schwer an andere anschließt. In der Schule zeigte er sich stets vor jeder Prüfung maßlos aufgeregt und blieb oft der Schule fern unter Hinweis auf Müdigkeit und Erschöpfung. Seine Mutter sorgte für ihn in der liebevollsten Weise. Da er nur für diese mütterliche Sorgfalt richtig vorbereitet war, konnte man schon daraus sein Ziel der Überlegenheit erraten, soweit als möglich allen Lebensfragen auszuweichen und damit auch jedem Fehlschlag. Bei der Mutter gab es keinen solchen. Daß er bei seiner Methode blieb, sich in die Obhut der Mutter zu begeben, verlieh ihm das Gepräge eines infantilen Menschen, ohne daß man ihn als körperlich infantil hätte bezeichnen können. Seine seit Kindheit erprobten Mittel des Rückzugs zur Mutter erfuhren eine namhafte Verstärkung, als ihn das erste Mädchen, zu dem er eine Zuneigung gefaßt hatte, abwies. Der Schock, der ihn bei diesem »exogenen« Ereignis überfiel, verstärkte seinen Rückzug, so daß er nirgends mehr Ruhe fand als bei seiner Mutter. Seine älteste Kindheitserinnerung lautete: »Als ich etwa vier Jahre alt war, saß ich am Fenster, während meine Mutter Strümpfe strickte, und beobachtete die Arbeiter, die gegenüber ein Haus bauten.«

Man wird sagen: ziemlich belanglos. Durchaus nicht. Seine Auswahl der ersten Erinnerung — ob es die älteste ist oder nicht, tut nichts zur Sache — beweist uns, daß ihn dabei irgendein Interesse gelenkt haben muß. Die Aktion seiner Gedächtnis­tätigkeit, geleitet durch den Lebensstil, greift eine Begebenheit heraus, die mit Stärke seine Eigenart verrät. Daß es eine Situation bei der vorsorglichen Mutter ist, zeigt uns das verwöhnte Kind. Aber noch ein Wichtiges verrät er uns. Er schaut zu, wie die anderen arbeiten. Seine Vorbereitung fürs Leben ist die eines Zuschauers. Er hat wenig anderes. Versucht er sich anderswo, so sieht er sich wie vor einem Abgrund und tritt unter der Wirkung eines Schocks — Furcht vor der Tatsache der Wertlosigkeit — den Rückzug an. Läßt man ihn zu Hause bei seiner Mutter, läßt man ihn zuschauen, wie die anderen arbeiten, so scheint ihm nichts zu fehlen. Seine Bewegungslinie zielt auf die Beherrschung der Mutter als das einzige Ziel seiner Überlegenheit. Leider gibt es nur wenig Aussichten für einen Zuschauer des Lebens. Nichtsdestoweniger wird man nach Heilung eines solchen Patienten nach einer Beschäftigung Ausschau halten, in der er seine bessere Vorbereitung im Schauen und Betrachten verwerten kann. Da wir es besser verstehen als der Patient, so müssen wir aktiv eingreifen, soweit, um zu verstehen zu geben: Du kannst ja wohl in jedem Beruf vorwärts kommen, aber wenn du deine bessere Vorbereitung ausnützen willst, so suche einen Beruf, in dem das Betrachten im Vordergrund steht. Er nahm erfolgreich einen Handel mit Kunstgegenständen auf.

 

Freud beschreibt in verzerrter Nomenklatur stets die Fehlschläge verwöhnter Kinder, ohne auf dieses Geheimnis gekommen zu sein. Das verwöhnte Kind will alles haben, läßt sich nur schwer herbei, die durch die Evolution befestigten normalen Funktionen auszuführen, begehrt die Mutter »in seinem Ödipuskomplex« (wenn auch übertrieben, so doch im seltenen Einzelfall begreiflich, weil das verwöhnte Kind jede andere Person ablehnt). Es hat später allerlei Schwierigkeiten (nicht wegen der Verdrängung des Ödipuskomplexes, sondern wegen der Schockwirkung vor anderen Situationen) und kommt in Ekstase, sogar zu Mordgelüsten gegenüber Personen, die sich seinen Wünschen entgegenstellen. Wie deutlich zu sehen, sind dies Kunstprodukte verfehlter, verwöhnender Erziehung, für ein Verständnis des Seelenlebens nur zu verwenden, wenn man die Folgen der Verwöhnung kennt und berücksichtigt. Sexualität aber ist eine Aufgabe für zwei Personen und kann nur richtig ausgeübt werden, wenn ein genügendes Maß von Gemeinschaftsgefühl vorhanden ist, das den verwöhnten Kindern abgeht. In krasser Verallgemeinerung ist Freud nun gezwungen, die künstlich genährten Wünsche, Phantasien und Symptome sowie deren Bekämpfung durch den verbliebenen Rest des Gemeinschaftsgefühls in angeborene sadistische Triebe zu verlegen, die wie wir sehen, später erst, als Folgen der Verwöhnung, dem Kinde künstlich aufgezüchtet werden. Daß der erste Akt des neugeborenen Kindes, das Trinken an der Mutterbrust, Kooperation ist — und nicht, wie Freud zugunsten seiner vorgefaßten Theorie glaubt, Kannibalismus, ein Zeugnis für den angeborenen sadistischen Trieb -, daß dieser Akt der Mutter ebenso zugute kommt wie dem Kinde, ist hiermit leicht verständlich. Die große Mannigfaltigkeit in den Lebensformen der Menschen verschwindet in der Dunkelheit der Freudschen Auffassung.

 

Ein weiteres Beispiel soll die Brauchbarkeit unseres Verständnisses der ältesten Kindheitserinnerungen aufweisen. Ein 18jähriges Mädchen lebt in stetem Zank mit seinen Eltern. Man will sie studieren lassen, da sie sehr gute Schulerfolge aufweist. Sie weigert sich, wie sich herausstellt, weil sie Mißerfolge fürchtet, die darauf begründet sind, daß sie nicht die erste in ihrem Schulexamen war. Ihre älteste Kindheitserinnerung war folgende: Sie hatte auf einem Kinderfest, als sie vier Jahre alt war, einen riesigen Kinderball in der Hand eines anderen Kindes gesehen. Als sehr verwöhntes Kind setzte sie alles daran, auch einen solchen Ball zu erhalten. Ihr Vater lief in der ganzen Stadt umher, einen solchen zu finden, aber es gelang ihm nicht. Einen kleineren Ball wies das Mädchen unter Schreien und Weinen zurück. Erst als ihr der Vater erklärte, wie seine ganze Mühe umsonst war, beruhigte sie sich und nahm den kleineren Ball. Ich konnte aus dieser Erinnerung schließen, daß dieses Mädchen freundlichen Erklärungen zugänglich sei; man konnte sie von ihrer ehrgeizigen Selbstsucht überzeugen, und man hatte Erfolg.

Wie dunkel oft die Wege des Schicksals sind, zeigt folgender Fall: Ein 42jähriger Mann wird nach langjähriger Ehe mit einer um zehn Jahre älteren Frau impotent. Seit zwei Jahren spricht er kaum mit seinem Weibe und mit seinen zwei Kindern. Vorher einigermaßen erfolgreich in seinem Beruf, vernachlässigt er seither sein Geschäft und bringt die Familie in eine klägliche Lage. Er war der Liebling seiner Mutter und sehr verwöhnt. Als er drei Jahre alt war, kam eine Schwester. Kurz nachher — die Ankunft der Schwester ist seine älteste Erinnerung — begann er das Bett zu nässen. Auch hatte er schreckhafte Träume in seiner Kindheit, wie wir es bei verwöhnten Kindern oft finden. Keine Frage, daß Bettnässen und Angst aus seinen Versuchen stammten, seine Entthronung rückgängig zu machen, wobei wir nicht übersehen wollen, daß das Bettnässen auch der Ausdruck einer Anklage, mehr vielleicht, ein Ak t der Rache gegen seine Mutter war. In der Schule war er ein hervorragend gutes Kind. Er erinnert sich nur ein einziges Mal in eine Rauferei mit einem anderen Knaben, der ihn beleidigt hatte, verwickelt gewesen zu sein. Der Lehrer gab seiner Verwunderung Ausdruck, wie solch ein guter Knabe sich hinreißen lassen konnte.

Wir können verstehen, daß er auf ausschließliche Anerkennung trainiert hatte und sein Ziel der Überlegenheit darin sah, anderen vorgezogen zu werden. Geschah dies nicht, griff er zu Mitteln, die teils Anklage, teils Rache bedeuteten, ohne daß diese Motivation ihm oder anderen klar wurde. In sein egoistisch gefärbtes Ziel der Vollkommenheit war ein großer Anteil eingeflossen, nach außen hin nicht als böse zu erscheinen. Wie er selbst hervorhob, hatte er das ältere Mädchen geheiratet, weil sie ihm wie seine Mutter entgegenkam. Als sie nun über fünfzig Jahre alt war und mehr in der Pflege der Kinder aufging, brach er die Verbindung mit ihnen allen in scheinbar nicht aggressiver Weise ab. In diesen Abbruch war auch seine Impotenz als Organsprache miteinbezogen. Man hätte in seinen Kinderjahren bereits erwarten können, daß er bei Verlust der Verwöhnung, wie damals, als die Schwester kam, seine wenig deutliche, aber deutlich wirkende Anklage immer wieder erheben würde.

Ein 30jähriger Mann, der ältere von zwei Kindern, hatte wegen gehäufter Diebstähle eine längere Kerkerstrafe verbüßt. Seine ältesten Erinnerungen stammen aus dem dritten Lebensjahr, aus der Zeit kurz nach der Ankunft des jüngeren Bruders. Sie lauteten: »Meine Mutter hat immer den Bruder vorgezogen. Ich lief schon als kleines Kind immer von Hause weg. Gelegentlich, wenn mich der Hunger trieb, verübte ich kleine Diebstähle in und außer dem Hause. Meine Mutter strafte mich in der grausamsten Weise. Ich lief aber immer wieder davon. In der Schule war ich bis zum 14. Jahre ein mittelmäßiger Schüler, wollte aber nicht weiter lernen und streifte allein auf den Straßen herum. Das Haus war mir verleidet. Ich hatte keinen Freund und habe nie ein Mädchen gefunden, das mich geliebt hätte, wonach ich mich immer sehnte. Ich wollte Tanzlokale besuchen, um Bekanntschaften zu machen, hatte aber kein Geld. Da stahl ich ein Auto und verkaufte es zu billigem Preis. Von dieser Zeit an begannen meine Diebstähle ein größeres Format anzunehmen, bis ich ins Gefängnis kam. Vielleicht hätte ich eine andere Laufbahn eingeschlagen, wenn mir das Haus nicht verleidet gewesen wäre, wo ich immer nur Schimpfe bekam. Meine Diebstähle aber wurden dadurch gefördert, daß ich in die Hände eines Hehlers geriet, der mich zu den Diebstählen aneiferte.«

Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß man in der Kindheit von Straffälligen fast in der Mehrheit der Fälle ehemals verwöhnte oder nach Verwöhnung suchende Kinder findet. Und was ebenso wichtig ist, daß man schon in ihrer Kindheit eine stärkere Aktivität wahrnehmen kann, die aber nicht mit Mut zu verwechseln ist. Daß die Mutter fähig war, ein Kind zu verwöhnen, zeigte sie an; ihrem zweiten Sohn. Aus der erbitterten Haltung dieses Mannes nach Ankunft des jüngeren Bruders können wir schließen, daß auch er vorher Verwöhnung erlebt hatte. Sein weiteres Schicksal stammte aus seiner erbitterten Anklage gegen die Mutter und aus jener Aktivität, für die er, mangels eines Gemeinschaftsgefühls zureichenden Grades — keine Freunde, kein Beruf, keine Liebe — keine andere Verwendung fand als im Verbrechen. Daß man mit einer Anschauung, als ob das Verbrechen Selbstbestrafung sei, verknüpft mit dem Wunsch, ins Gefängnis zu kommen, vor die Öffentlichkeit treten kann, wie dies neuerlich gewisse Psychiater tun, verrät doch eigentlich einen Mangel an geistigem Schamgefühl, insbesondere, wenn es verbunden ist mit einer offenen Verhöhnung des Common sense und mit beleidigenden Ausfällen gegen unsere tief begründeten Erfahrungen. Ob die Entstehung solcher Anschauungen nicht aus dem Geist verwöhnter Kinder geboren ist und auf den Geist verwöhnter Kinder im Publikum zurückwirkt, überlasse ich dem Leser zur Entscheidung.


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 09:36:44 •
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