13. Gemeinschaftshindernde Kindheitssituationen und deren Behebung


Man wird bei der Suche nach veranlassenden und verlockenden Situationen in der Kindheit schließlich immer auf jene schweren Probleme stoßen, die ich schon vorher als die bedeutsamsten genannt habe, die geeignet sind, die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls zu erschweren und deshalb auch außerordentlich häufig zu hindern: auf Verwöhnung, angeborene Organminderwertigkeiten und Vernachlässigung. Die Einwirkungen dieser Faktoren sind nicht nur ihrer Ausdehnung und ihres Grades wegen verschieden, auch nicht nur ihrer Dauer, des Beginns und Endes ihrer Wirksamkeit, sondern hauptsächlich der nahezu unausrechenbaren Erregung und Beantwortung wegen, die sie in dem Kinde erzeugen. Die Stellung des Kindes zu diesen Faktoren hängt nicht allein von »trial and error« (Versuch und Irrtum) des Kindes ab, sondern viel mehr noch, wie sich nachweisen läßt, von der Wachstumsenergie des Kindes, seiner schöpferischen Kraft als eines Teiles des Lebensprozesses, deren Entfaltung in unserer, das Kind bedrängenden und fördernden Kultur ebenfalls nahezu unausrechenbar und nur aus den Erfolgen zu entnehmen ist. Will man hier vermutungsweise weitergehen, so hätte man eine Unzahl von Tatsachen ins Auge zu fassen, familiäre Eigenheiten, Licht, Luft, Jahreszeit, Wärme, Lärm, Kontakt mit Personen, die besser oder schlechter geeignet sind, Klima, Bodenbeschaffenheit, Nahrung, das endokrine System, Muskulatur, Tempo der Organentwicklung, embryonales Stadium und noch vieles andere, wie die Handreichungen und Pflege der betreuenden Personen. In dieser verwirrenden Fülle der Tatsachen wird man bald fördernde, bald benachteiligende Faktoren anzunehmen geneigt sein. Wir wollen uns damit begnügen, mit großer Vorsicht statistische Wahrscheinlichkeiten ins Auge zu fassen, ohne die Möglichkeit differierender Resultate zu leugnen. Viel sicherer ist der Weg der Beobachtung der Ergebnisse, zu deren Abänderung große Möglichkeiten vorhanden sind. Die dabei zutage tretende schöpferische Kraft wird sich in einer kleineren oder größeren Aktivität des Körpers und des Geistes hinreichend feststellen lassen.

Aber es kann nicht übersehen werden, daß die Neigung zur Kooperation vom ersten Tage an herausgefordert ist. Die ungeheure Bedeutung der Mutter in dieser Hinsicht tritt klar hervor. Sie steht an der Schwelle der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls. Das biologische Erbe des menschlichen Gemeinschaftsgefühls wartet auf ihre Pflege. In kleinen Handreichungen, beim Bade, in allen Darbietungen, die das hilflose Kind benötigt, kann sie den Kontakt des Kindes verstärken oder hemmen. Ihre Beziehung zu dem Kinde, ihr Verständnis und ihre Geschicklichkeit sind maßgebende Mittel. Wir wollen nicht übersehen, daß auch in dieser Hinsicht die menschliche Evolutionshöhe den Ausgleich schaffen und daß das Kind selbst sich über die vorhandenen Hindernisse hinaus den Kontakt durch Schreien und Widerspenstigkeit erzwingen kann. Denn auch in der Mutter wirkt und lebt der biologische Erwerb der Mutterliebe, eines unbesiegbaren Anteils des Gemeinschaftsgefühls. Er kann durch widrige Umstände, durch übergroße Sorgen, durch Enttäuschungen, durch Krankheit und Leiden, durch auffallenden Mangel an Gemeinschaftsgefühl und seine Folgen brachgelegt sein. Aber der evolutionäre Erwerb der Mutterliebe ist gemeiniglich so stark bei Tieren und bei Menschen, daß er leicht den Nahrungstrieb und den Sexualtrieb überwindet. Man darf wohl feststellen, daß die Bedeutung des mütterlichen Kontakts für die Entwicklung des menschlichen Gemeinschaftsgefühls von allergrößter Bedeutung ist. Ein Verzicht auf diesen übermächtigen Hebel der Entwicklung der Menschheit würde uns in die größte Verlegenheit bringen, einen halbwegs zureichenden Ersatz zu finden, ganz abgesehen davon, daß sich das mütterliche Kontaktgefühl als ein unverlierbarer Besitz der Evolution mit Unerbittlichkeit gegen eine Zerstörung zur Wehr setzen würde. Wahrscheinlich verdanken wir dem mütterlichen Kontaktgefühl den größten Teil des menschlichen Gemeinschaftsgefühls, und damit auch den wesentlichen Bestand der menschlichen Kultur. Freilich genügt die gegenwärtige Auswirkung der Mutterliebe heute oft nicht der Not der Gemeinschaft. Eine ferne Zukunft wird den Gebrauch dieses Besitzes dem Gemeinschaftsideal viel mehr anzugleichen haben. Denn häufig ist der Kontakt zwischen Mutter und Kind zu schwach, noch häufiger zu stark. Im ersteren Falle kann das Kind vom Beginne seines Lebens den Eindruck der Feindlichkeit des Lebens bekommen und durch weitere Erfahrungen ähnlicher Art diese Meinung zur Richtschnur seines Lebens machen.

Wie ich oft genug gesehen habe, genügt da auch der bessere Kontakt mit dem Vater, mit den Großeltern nicht, diesen Mangel auszugleichen. Man kann im allgemeinen feststellen, daß der bessere Kontakt eines Kindes mit dem Vater den Fehlschlag der Mutter erweist, nahezu immer eine zweite Phase im Leben eines Kindes bedeutet, das an der Mutter — mit Recht oder Unrecht — eine Enttäuschung erlebt hat. Daß man häufig bei Mädchen den stärkeren Kontakt zum Vater, bei Knaben zur Mutter findet, kann nicht auf die Sexualität bezogen werden, sondern muß auf die obige Feststellung hin geprüft werden, wobei zweierlei sich zeigen wird: daß Väter den Mädchen gegenüber häufig zart auftreten, wie sie es Mädchen und Frauen gegenüber gewöhnt sind, und daß Mädchen wie Knaben in spielerischer Vorbereitung für ihr künftiges Leben wie auch in Spielen überhaupt1) diese Vorbereitung auch dem andersgeschlechtlichen Elternteil gegenüber zeigen. Daß da gelegentlich auch der Sexualtrieb hineinspielt, freilich selten in der übertriebenen Art, wie Freud es darstellt, habe ich nur bei sehr verwöhnten Kindern gesehen, die ihre ganze Entwicklung innerhalb der Familie durchführen wollen, oder noch mehr, imausschließlichen Bunde mit einer einzigen, verwöhnenden Person. Was der Mutter entwicklungsgeschichtlich und sozial als Aufgabe obliegt, ist, das Kind so früh als möglich zum Mitarbeiter, zum Mitmenschen zu machen, der gerne hilft und sich gerne, soweit seine Kräfte nicht ausreichen, helfen läßt. Man könnte über das »wohltemperierte Kind« Bände schreiben. Hier muß es genügen, darauf hinzuweisen, daß sich das Kind als gleichberechtigter Partner im Hause mit wachsendem Interesse an Vater und Geschwistern, bald auch an allen Personen seiner Umgebung, fühlen soll. So wird es frühzeitig nicht mehr eine Last, sondern ein Mitspieler sein. Es wird sich bald heimisch fühlen und jenen Mut und jene Zuversicht entwickeln, die ihm aus seinem Kontakt mit der Umgebung erwachsen. Störungen, die es verursacht, sei es in beabsichtigten oder unbeabsichtigten Fehlern seiner Funktionen, Bettnässen, Stuhlverhaltungen, Eßschwierigkeiten ohne krankhafte Ursache, werden ihm selbst eine lösbare Aufgabe sein, wie auch seiner Umgebung, ganz abgesehen davon, daß sie nie in Erscheinung treten werden, wenn seine Neigung zur Kooperation genügend groß ist. Dasselbe gilt vom Daumenlutschen und vom Nägelbeißen, vom Nasenbohren und vom Verschlingen großer Bissen. Alle diese Erscheinungen treten nur auf, wenn das Kind das Mitgehen, die Aufnahme der Kultur verweigert, und zeigen sich fast ausschließlich bei verwöhnten Kindern, die so die Umgebung zu erhöhter Leistung, zu Fleißaufgaben zwingen wollen, und sind immer auch mit Trotz, offen oder heimlich, verbunden, deutlichen Zeichen eines mangelhaften Gemeinschaftsgefühls. Ich habe seit langer Zeit auf diese Tatsachen hingewiesen. Wenn Freud heute die Grundlage seiner Lehre, die Allsexualität, zu mildern trachtet, so haben an dieser Korrektur die individualpsychologischen Erfahrungen wohl den größten Anteil. Die viel jüngere Anschauung Charlotte Bühlers bezüglich eines »normalen« Trotzstadiums des Kindes müssen wohl richtig auf unsere Erfahrungen reduziert werden. Daß die Kinderfehler mit Charakterzügen wie Trotz, Eifersucht, Eigenliebe, Mangel an Gemeinschaftsgefühl, selbstischem Ehrgeiz, Rachsucht usw. verknüpft sind, sie das eine Mal mehr, das andere Mal weniger deutlich zeigen, geht aus der oben geschilderten Struktur hervor, bestätigt auch unsere Auffassung des Charakters als einer Leitlinie zum Ziel der Überlegenheit, als einer Spiegelung des Lebensstils und als einer sozialen Stellungnahme, die nicht angeboren ist, sondern gleichzeitig mit dem vom Kinde geschaffenen Bewegungsgesetz fertiggestellt wird. An den wahrscheinlich kleinen Freuden wie Stuhlverhaltung, Daumenlutschen, kindlichen Spielen am Genitale usw. festzuhalten, die vielleicht gelegentlich durch ein stärkeres, zum Verschwinden bestimmtes Kitzelgefühl eingeleitet werden, zeigt sich die Eigenart verwöhnter Kinder, die sich keinen Wunsch und keinen Genuß versagen können.

Eine weitere gefährliche Ecke für die Entwicklung des Gemeinschafts­gefühls bildet die Persönlichkeit des Vaters. Die Mutter darf ihm nicht die Gelegenheit nehmen, den Kontakt mit dem Kinde so fest als möglich zu gestalten, wie es im Falle der Verwöhnung oder im Falle des mangelnden Kontaktes, im Falle der Abneigung gegen ihn leicht geschehen kann. Er darf auch nicht zu Zwecken der Drohung oder der Strafe auserkoren werden. Und er muß dem Kinde genügende Zeit und Wärme geben, um nicht durch die Mutter in den Hintergrund gedrängt zu werden. Als besondere Schädlichkeiten kann ich noch anführen, wenn er die Mutter durch übergroße Zärtlichkeit auszustechen trachtet, wenn er zur Korrektur der Verwöhnung durch die Mutter ein strenges Regime einführt und so das Kind noch stärker zur Mutter hindrängt, und wenn er dem Kinde seine Autorität und seine Prinzipien aufzuzwingen versucht. Er kann durch letzteres vielleicht Unterwerfung, niemals aber Mitarbeit und Gemeinschaftsgefühl erzwingen. Insbesondere ist es die Gelegenheit der Mahlzeiten, die in unserer hastenden Zeit von großer Bedeutung für die Erziehung zum Mitleben sind. Eine fröhliche Stimmung dabei ist unerläßlich. Belehrungen über Eßmanieren sollen so spärlich als möglich sein. Man wird sie auf diese Weise am leichtesten erfolgreich machen. Tadel, Zornausbrüche, Verdrossenheit sollen bei diesen Gelegenheiten ausgeschaltet sein. Ebenso muß man sich der Beschäftigung mit Lektüre, mit Grübeleien enthalten. Diese Zeit ist auch die ungeeignetste, um Tadel über schlechte Schulerfolge oder andere Mißstände anzubringen. Und man muß trachten, die Gemeinsamkeit bei den Mahlzeiten durchzuführen, was mir besonders beim Frühstück als wichtig erscheint. Daß Kindern das Reden oder Fragen stets freigestellt sein soll, ist eine gewichtige Forderung. Verlachen, Verspotten, Nörgeln, andere Kinder als gutes Beispiel hinstellen schädigt den Anschluß, kann Verschlossenheit, Scheu und ein anderes schweres Minderwertigkeitsgefühl erzeugen. Man soll Kindern ihre Kleinheit, ihren Mangel an Wissen und Können nicht vorhalten, sondern ihnen den Weg zu einem mutigen Training freilegen, sie auch gewähren lassen, wenn sie an etwas Interesse zeigen, ihnen nicht alles aus der Hand nehmen, immer auch darauf hinweisen, daß nur der Anfang schwer ist, keine übertriebene Ängstlichkeit Gefahren gegenüber, aber richtige Voraussicht und richtigen Schutz bei solchen zeigen. Nervosität der Eltern, eheliche Zerwürfnisse, Uneinigkeiten in Fragen der Erziehung können leicht die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls schädigen. Allzu kategorisches Hinausweisen des Kindes aus der Gesellschaft der Erwachsenen sollte nach Tunlichkeit vermieden werden. Lob und Tadel muß nur dem gelungenen oder mißlungenen Training gelten, nicht der Persönlichkeit des Kindes.

Die Krankheit eines Kindes kann ebenfalls eine gefährliche Klippe für die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls werden. Gefährlicher, wie auch die anderen Erschwerungen, wenn sie sich innerhalb der ersten fünf Jahre einstellt. Wir haben über die Bedeutung der angeborenen Organminder­wertigkeiten gesprochen und gezeigt, daß sie sich statistisch als verleitendes Übel und als Hindernis für das Gemeinschaftsgefühl herausstellen. Dasselbe gilt für frühzeitig auftretende Erkrankungen wie Rachitis, die die körperliche, nicht die geistige Entwicklung beeinträchtigen und auch zu Verunstaltungen größeren und geringeren Grades führen können. Unter den anderen Krankheiten des frühen Kindesalters beeinträchtigen diejenigen am meisten das Gemeinschaftsgefühl, bei denen die Angst und Sorge der Umgebung dem Kinde einen großen Eindruck seines Eigenwertes ohne Beitragsleistung vor Augen führen. Hierher gehören Keuchhusten, Scharlach, Enzephalitis und Chorea, nach deren oft tadellosem Ablauf man Schwererziehbarkeit des Kindes beobachten kann, weil es auch später noch für die Aufrechterhaltung seiner Verwöhnung kämpft. Auch in Fällen, in denen körperliche Schädigungen zurückbleiben, wird man gut tun, Verschlechterungen im Verhalten des Kindes nicht ohne weiteres auf diese Schädigungen zu beziehen und die Hände in den Schoß zu legen. Ich habe sogar nach fehlerhaften Diagnosen eines Herzleidens und einer Nierenerkrankung und nach Aufdeckung des Irrtums beobachten können, daß die Schwererziehbarkeit bei Feststellung vollkommener Gesundheit nicht schwindet, daß die Eigenliebe mit allen ihren Folgen, besonders mit Mangel des sozialen Interesses gleichbleibend fortdauert. Angst, Sorge und Tränen helfen dem kranken Kinde nicht, sondern verleiten es, in der Krankheit einen Vorteil zu erblicken. Daß korrigierbare Schädigungen des Kindes so bald als möglich gebessert oder geheilt werden müssen, daß man sich in keinem Falle darauf verlassen darf, daß sich der Fehler »auswachsen« werde, versteht sich von selber. Ebenso ist die Behütung vor Krankheit, soweit unsere Mittel reichen, anzustreben, ohne das Kind ängstlich zu machen und ohne ihm den Anschluß an andere zu verwehren.

Die Belastung eines Kindes mit Dingen, die es körperlich und geistig allzusehr in Anspruch nehmen, kann durch Erregung von Unlust oder Übermüdung leicht zu einer dem Anschluß ans Leben widrigen Stimmung führen. Kunst und Wissen, sollen dem Fassungsgrad des Kindes entsprechen.2) Dem Aufklärungsfanatismus mancher Sexualpädagogen muß aus demselben Grunde ein Ende gemacht werden. Man soll dem Kinde antworten, wenn es fragt oder zu fragen scheint, soweit man sicher ist, daß das Kind die Mitteilung verdauen kann. In allen Fällen aber soll es über die Gleichwertigkeit der Geschlechter und über seine eigene Geschlechtsrolle frühzeitig belehrt werden, weil es sonst, wie auch Freud heute zugibt, aus unserer rückständigen Kultur die Meinung schöpfen kann, als ob die Frau eine niedrigere Stufe vorstellte, was bei Knaben leicht zu Hochmut mit allen seinen gemeinschaftswidrigen Folgen, bei Mädchen zu dem von mir im Jahre 1912 beschriebenen »männlichen Protest«3) mit ebenso schlechten Folgen, im Zweifel über das eigene Geschlecht zu einer mangelhaften Vorbereitung für die eigene Geschlechtsrolle mit allen ungünstigen Folgen führen kann.

Gewisse Schwierigkeiten ergeben sich aus der Stellung der Geschwister innerhalb einer Familie. Der betonte, aber auch der unbetonte Vorrang eines der Geschwister in der frühen Kindheit wird oft zum Nachteil des anderen. Mit ungeheurer Häufigkeit findet man Fehlschläge des einen Kindes neben Vorzügen eines anderen. Die größere Aktivität des einen kann zur Passivität des anderen Anlaß geben, der Erfolg des einen zum Mißerfolg des anderen. Wie sehr sich frühzeitige Mißerfolge ungünstig für die Zukunft eines Kindes auswirken, ist oft zu sehen. Ebenso kann die nicht leicht zu vermeidende Bevorzugung des einen Kindes zum Schaden des anderen ausschlagen, indem es in ihm schweres Minderwertigkeitsgefühl mit allen möglichen Ausgestaltungen eines Minderwertigkeitskomplexes auslöst. Auch die Größe, Schönheit, Kraft des einen wird seine Schatten auf den anderen werfen. Dabei dürfen die von mir zutage geförderten Tatsachen, die sich aus der Stellung eines Kindes in der Geschwisterreihe ergeben, nicht übersehen werden.

Man muß vor allem mit dem Aberglauben aufräumen, als ob die Situation jedes einzelnen Kindes innerhalb einer Familie die gleiche wäre. Wir wissen bereits, daß, wenn es auch für alle eine gleiche Umgebung und eine gleiche Erziehung gäbe, deren Einwirkung vom Kinde als Material verwendet wird, in einer Art, wie sie der schöpferischen Kraft des Kindes taugt. Wir werden sehen, wie verschieden sich die Umgebung jedes einzelnen Kindes verhält. Daß die Kinder weder die gleichen Gene noch die gleichen phaenischen Bedingtheiten aufweisen, scheint ebenfalls sichergestellt. Selbst bezüglich der eineiigen Zwillinge wächst der Zweifel an ihrer gleichen physischen und psychischen Konstitution immer mehr.4) Die Individualpsychologie steht seit jeher auf dem Boden der angeborenen physischen Konstitution, hat aber festgestellt, daß die »psychische Konstitution« sich erst in den ersten drei bis fünf Jahren herausstellt, in der Bildung des psychischen Prototyps, der das dauernde Bewegungsgesetz des Individuums bereits in sich enthält und seine Lebensform der schöpferischen Kraft des Kindes verdankt, die Heredität und Milieuwirkungen als Bausteine benützt. Nur unter dieser Anschauung war es mir möglich, Differenzen der Geschwister nahezu als typisch, wenn auch in jedem einzelnen Falle verschieden darzustellen. Ich halte meine Aufgabe für gelöst, gezeigt zu haben, daß sich in der Lebensform jedes Kindes der Abdruck seiner Stellung in der Geschwisterreihe zeigt. Diese Tatsache wirft auch ein scharfes Licht auf die Frage der Charakterentwicklung. Denn wenn es richtig ist, daß gewisse Charakterzüge mit der Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe übereinstimmen, dann bleibt nicht viel Platz mehr übrig für Diskussionen, die die Heredität des Charakters betonen oder dessen Abstammung aus der Analzone oder einer anderen.

Noch mehr. Es läßt sich gut verstehen, wie ein Kind kraft seiner Stellung in der Geschwisterreihe zu einer gewissen Eigenart gelangt. Mehr oder weniger bekannt sind die Schwierigkeiten eines einzigen Kindes. Stets unter Erwachsenen, meist übertrieben sorgsam behütet, unter steter Angst der Eltern heranwachsend, lernt es sehr bald, sich als Mittelpunkt zu fühlen und zu benehmen. Oft ergibt sich Krankheit oder Schwäche eines der Eltern als ein erschwerender Umstand. Häufiger kommen Eheschwierigkeiten und Ehetrennungen in Betracht, eine Atmosphäre, in der das Gemeinschaftsgefühl des Kindes schlecht gedeiht. Recht oft findet man, wie ich gezeigt habe, den meist neurotisch geäußerten Protest der Mutter gegen ein weiteres Kind, ein Protest, der meist mit übertriebener Sorgfalt für das eine Kind, mit seiner vollkommenen Versklavung verbunden ist. Man findet im späteren Leben solcher Kinder, bei jedem verschieden, eine der Abstufungen zwischen heimlich protestierender Unterwerfung und übertriebener Sucht nach Alleinherrschaft, wunde Stellen, die bei Berührung durch ein exogenes Problem zu bluten, sich lebhaft zu äußern beginnen. Starke Gebundenheit an die Familie, die den Anschluß nach außen verhindert, zeigt sich als abträglich in vielen Fällen.

Bei größerer Kinderzahl findet man den Erstgeborenen in einer einzigartigen Situation, die keines der anderen Kinder erlebt. Er ist eine Zeitlang ein einziges Kind und erfährt Eindrücke, wie dieses. Verschiedene Zeit später wird er »entthront«. Dieser von mir gewählte Ausdruck gibt den Wechsel der Situation so genau wieder, daß auch spätere Autoren, wenn sie diesem Falle gerecht werden, wie Freud, sich dieses bildlichen Ausdruckes nicht entschlagen können. Die Zeit, die bis zu dieser »Entthronung« verstreicht, ist für den Eindruck und dessen Verarbeitung nicht gleichgültig. Sind es drei oder mehr Jahre, so fällt das Ereignis in den bereits stabilisierten Lebensstil und wird in dessen Art beantwortet. Im allgemeinen vertragen verwöhnte Kinder diesen Wechsel ebenso schlecht wie etwa die Entwöhnung von der Mutterbrust. Ich muß aber feststellen, daß selbst ein einziges Jahr des Intervalls genügt, um die Spuren der Entthronung durch das ganze Leben sichtbar zu machen. Dabei muß auch der vom erstgeborenen Kinde bereits erworbene Lebensraum in Betracht gezogen werden wie auch die Einengung desselben, die es durch das zweite Kind erfährt. Man sieht, daß für unsere nähere Einsicht eine Menge von Faktoren herangezogen werden müssen. Vor allem auch, daß sich der ganze Vorgang, wenn das Zeitintervall nicht groß ist, »wortlos«, ohne Begriffe vollzieht, das heißt, einer Korrektur auch durch spätere Erfahrungen nicht zugänglich ist, sondern nur durch individualpsychologische Erkenntnis des Zusammenhanges. Diese wortlosen Eindrücke, deren es im frühen Kindesleben viele gibt, würden von Freud und Jung, falls sie einmal darauf stießen, anders gedeutet werden, nicht als Erlebnisse, sondern in ihren Folgerungen als unbewußte Triebe oder als atavistisches soziales Unbewußtes. Haßregungen aber oder Todeswünsche, die man gelegentlich antrifft, sind die uns wohlbekannten Kunstprodukte einer unrichtigen Erziehung des Gemeinschaftsgefühls und finden sich nur bei verwöhnten Kindern oft gegen das zweite Kind gerichtet. Ähnliche Stimmungen und Verstimmungen findet man auch bei späteren Kindern, auch bei ihnen vor allem, wenn sie verwöhnt waren. Aber der Erstgeborene, wenn er stärker verwöhnt wurde, hat wegen seiner Ausnahmestellung etwas vor den anderen voraus und empfindet durchschnittlich die Entthronung stärker. Die ähnlichen Erscheinungen aber bei späteren Kindern, die leicht zur Entstehung eines Minderwertigkeitskomplexes Anlaß geben, sind Beweis genug, daß ein etwa stärkeres Geburtstrauma als Ursache der Fehlschläge bei Erstgeborenen in das Reich der Fabeln zu versetzen ist, eine vage Annahme, die nur bei Unkenntnis der individualpsychologischen Erfahrungen erhascht werden konnte.

Es ist auch leicht zu verstehen, daß der Protest des Erstgeborenen gegen seine Entthronung sich recht häufig in einer Neigung kundgibt, die irgendwie gegebene Macht als berechtigt anzuerkennen oder ihr an der Seite zu stehen. Diese Neigung gibt dem Erstgeborenen gelegentlich einen deutlich »konservativen Charakter«, der sich nicht etwa politisch, sondern sachlich geltend macht. Ein sprechendes Beispiel dafür habe ich in der Biographie Theodor Fontanes gefunden. Wer nicht Haare spalten will, wird auch in Robespierres Persönlichkeit den autoritären Zug trotz seiner hervorragenden Anteilnahme an der Revolution nicht verkennen. Man soll aber angesichts der regelfeindlichen Haltung der Individualpsychologie nicht übersehen, daß nicht die Nummer, sondern die Situation ausschlaggebend ist, so daß auch später in der Kinderreihe das seelische Porträt eines Erstgeborenen auftauchen kann, wenn ein solches Kind etwa mehr auf ein nachfolgendes Kind angewiesen ist und reagiert. Auch der Umstand darf nicht übersehen werden, daß gelegentlich ein Zweitgeborener in die Rolle des ersten eintritt, wie zum Beispiel, wenn der Erstgeborene als schwachsinniges Kind nicht recht für unseren Fall in Betracht kommt. Ein gutes Beispiel dafür findet man in der Persönlichkeit Paul Heyses, der sich fast väterlich zu seinem älteren Bruder bezog und in der Schule sich als rechte Hand des Lehrers aufspielte. Man wird aber in jedem Falle einen Forschungsweg bereitgestellt finden, wenn man nach den speziellen Lebensformen eines Erstgeborenen Umschau hält und nicht vergißt, wie der zweite ihn im Rücken bedrängt. Daß er da gelegentlich den Ausweg findet, den zweiten väterlich oder mütterlich zu behandeln, ist nur eine Variante seines Strebens nach der Oberhand.

Ein spezielles Problem scheint recht häufig unter jenen Erstgeborenen heranzuwachsen, die in nicht allzugroßem Abstand von einer Schwester gefolgt sind. Ihr Gemeinschaftsgefühl ist da oft starken Beeinträchtigungen ausgesetzt. Vor allem deshalb, weil Mädchen von der Natur in ihrem körperlichen und geistigen Wachstum in den ersten 17 Jahren besonders gefördert werden, deshalb dem Schrittmacher stärker nachdrängen. Oft auch deshalb, weil sich der ältere Knabe nicht nur in seinem Vorrang, sondern auch in dem üblen Vorzug der männlichen Rolle zu behaupten trachtet, während das Mädchen oft durch die heute noch bestehende kulturelle Bedrängung in einem schweren Minderwertigkeitsgefühl stark nachstößt, und dabei ein stärkeres Training an den Tag legt, das ihr oft deutliche Züge großer Energie verleiht. Dies ist auch bei anderen Mädchen der Auftakt zum »männlichen Protest«5), der unzählige gute und schlimme Folgen in der Entwicklung von Mädchen zeitigen kann, alle zwischen Vorzügen und Abwegigkeiten menschlicher Art bis zur Ablehnung der Liebe oder bis zur Homosexualität gelagert. Freud hat später von dieser individualpsychologischen Erkenntnis Gebrauch gemacht und hat sie unter dem Namen »Kastrationskomplex« in sein Sexualschema eingepreßt, behauptend, daß nur der Mangel des männlichen Gliedes jenes Minderwertigkeitsgefühl erzeugt, dessen Struktur von der Individualpsychologie gefunden wurde. Er läßt aber neuerlich schwach durchblicken, daß er auch für die soziale Seite dieser Frage einiges übrig hat. Daß der Erstgeborene fast immer als der Träger der Familie und ihrer konservativen Tradition angesehen wurde, zeigt wieder, daß die Fähigkeit des Erratens die Erfahrung voraussetzt.

Was die Eindrücke betrifft, unter denen so häufig der Zweitgeborene selbstschöpferisch sein Bewegungsgesetz gestaltet, so sind sie hauptsächlich darin zu finden, daß da ununterbrochen ein anderes Kind vor ihm herläuft, das nicht nur weiter in seiner Entwicklung ist, sondern ihm auch zumeist durch sein Festhalten an der Oberhand die Gleichheit bestreitet. Diese Eindrücke fallen hinweg, wenn der Abstand der Jahre groß ist, und sind um so stärker, je geringer er ist. Sie wirken drückend, wenn der Erstgeborene im Empfinden des zweiten nicht zu schlagen ist. Sie verschwinden fast, wenn der zweite von vornherein siegreich ist, sei es wegen der Minderwertigkeit des ersten oder wegen seiner geringeren Beliebtheit. Fast immer aber wird man das heftigere Aufwärtsstreben des zweiten beobachten können, das sich bald in verstärkter Energie, bald in heftigerem Temperament, bald auf der Seite des Gemeinschaftsgefühls, bald in einem Fehlschlag äußert. Man wird danach suchen müssen, ob er sich nicht vorwiegend wie im Wettlauf befindet, an dem auch der erste gelegentlich teilnimmt, und ob er sich nicht immer wie unter Volldampf darstellt. Bei ungleichem Geschlecht kann sich die Rivalität verschärfen, gelegentlich auch ohne daß das Gemeinschaftsgefühl wesentlich geschädigt ist. Auch die Schönheit des einen Kindes fällt dabei ins Gewicht. Ebenso die Verzärtelung eines der beiden, wobei für den Betrachter der Unterschied in der Sorgfalt der Eltern nicht gerade auffallend sein muß, es wohl aber in der Meinung des einen sein kann. Ist der eine ein ausgesprochener Fehlschlag, so findet man den anderen oft in guter Verfassung, die sich gelegentlich beim Eintritt ins Leben der Schule oder des Erwachsenseins als wenig gefestigt erweisen kann. Ist der eine von beiden als hervorragend anerkannt, so kann sich der andere leicht als Fehlschlag herausstellen. Manchmal findet man, sogar bei eineiigen Zwillingen, als scheinbare Ähnlichkeit, daß beide dasselbe tun, im Guten wie im Bösen, wobei nicht übersehen werden darf, daß dabei der eine im Schlepptau des anderen ist. Auch im Falle des Zweitgeborenen haben wir Gelegenheit, die ursprüngliche, offenbar durch die Evolution festgelegte Fähigkeit des Erratens, dem Verstehen vorauseilend, zu bewundern. Besonders in der Bibel ist die Tatsache des himmelstürmenden zweiten in der Geschichte von Esau und Jakob wundervoll enthüllt, ohne daß wir ein Verstehen dieser Tatsache voraussetzen könnten, Jakobs Sehnsucht nach der Erstgeburt, sein Ringen mit dem Engel (»ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«), sein Traum von der Himmelsleiter sprechen deutlich den Wettlauf des zweiten aus. Auch wer nicht geneigt ist, dieser meiner Darstellung zu folgen, wird immerhin eigenartig berührt sein, wenn er im ganzen Lebenslauf Jakobs dessen Geringschätzung für den ersten wiederfindet. So in seiner hartnäckigen Werbung um die zweite Tochter Labans, in der geringen Hoffnung, die er auf seinen Erstgeborenen setzt und in der Art, wie er seinen größeren Segen, unter Kreuzung der Arme mit der rechten Hand, dem zweiten Sohn Josephs zuteil werden läßt.

Von den zwei älteren Töchtern einer Familie äußerte sich die erste seit der Geburt ihrer jüngeren Schwester, drei Jahre nach ihr, als ein wild revoltierendes Kind. Die zweite »erriet« ihren Vorteil darin, ein folgsames Kind zu werden und machte sich dadurch außerordentlich beliebt. Je beliebter sie wurde, um so mehr tobte die Ältere, die bis in ihr höheres Alter ihre stürmisch protestierende Haltung aufrechthielt. Die zweite, an ihre Überlegenheit in allen Dingen gewöhnt, erlitt ihren Schock, als sie in der Schule zurückblieb. Die Schule und später die drei Lebensprobleme zwangen sie, ihren Rückzug von dem für ihren Ehrgeiz gefährlichen Punkt zu stabilisieren und damit auch, infolge der fortwährenden Furcht vor einer Niederlage, ihren Minderwertigkeitskomplex in der Form der von . mir so genannten »zögernden Bewegung« auszubauen. Dadurch war sie wohl vor allen Niederlagen einigermaßen geschützt. Wiederholte Träume von Zuspätkommen zu einem Eisenbahnzug zeigten die Kraft ihres Lebensstils, der ihr im Traum nahelegte, für das Versäumen von Gelegenheiten zu trainieren. Kein menschliches Individuum kann aber im Gefühl der Minderwertigkeit einen Ruhepunkt finden. Das evolutionär festgelegte Streben alles Lebendigen nach einem idealen Ziel der Vollkommenheit ruht niemals und findet seinen Weg aufwärts, in der Richtung des Gemeinschaftsgefühls oder gegen dasselbe in tausend Varianten. Die Variante, die unserer Zweitgeborenen nahegelegt war und nach einigen tastenden Versuchen als brauchbar gefunden wurde, war eine Waschzwangsneurose, die ihr durch fortwährendes Waschenmüssen ihrer Person, ihrer Kleider und ihrer Geräte, was besonders dann eintrat, wenn andere Personen ihr nahe kamen, den Weg zur Erfüllung ihrer Aufgaben verlegte, auch geeignet war, die Erfüllung fordernde Zeit, den großen Feind der Neurotiker, totzuschlagen. Dabei hatte sie erraten, ohne es zu verstehen, daß sie durch übertriebene Erfüllung einer kulturellen Funktion, die sie früher beliebt gemacht hatte, allen anderen Menschen den Rang abgelaufen hatte. Nur sie war rein, alle anderen, alles andere war schmutzig. Über den Mangel ihres Gemeinschaftsgefühls, den Mangel bei einem scheinbar so gut gearteten Kinde einer stark verwöhnenden Mutter, brauche ich nichts mehr zu sagen. Ebenso nicht darüber, daß ihre Heilung nur durch Verstärkung ihres Gemeinschaftsgefühls denkbar war.

Über den Jüngsten der Familie ist viel zu sagen. Auch er befindet sich in einer gründlich verschiedenen Situation, verglichen mit den anderen. Er ist niemals allein, wie der Älteste es eine Zeitlang ist. Er hat aber auch keinen Hintermann, wie ihn alle anderen Kinder haben. Und er hat nicht einen einzigen Vordermann, wie der zweite, sondern oft mehrere. Er ist meist von den alternden Eltern verwöhnt und findet sich in der unbehaglichen Situation, stets als der Kleinste und Schwächste, meist nicht ernst genommen, angesehen zu werden. Seine Lage ist im allgemeinen nicht ungünstig. Und sein Streben nach Überlegenheit über seine Vordermänner wird täglich aufgestachelt. In mancher Beziehung gleicht seine Lage der des zweiten, eine Situation, in die auch Kinder an einer anderen Stelle der Kinderreihe gelangen können, wenn zufällig ähnliche Rivalitäten Platz greifen. Seine Stärke zeigt sich oft darin, daß Versuche zu sehen sind, allen Geschwistern über den Kopf zu wachsen, in den verschiedensten Graden des Gemeinschaftsgefühls. Seine Schwäche kommt oft darin zur Erscheinung, daß er dem direkten Kampf um die Überlegenheit ausweicht, was bei größerer Verwöhnung die Regel zu sein scheint, und daß er sein Ziel auf einer anderen Ebene, in einer anderen Lebensform, in einem anderen Beruf zu erreichen sucht. Man ist bei dem individualpsychologisch geschulten Blick in die Werkstätte des menschlichen Seelenlebens immer wieder erstaunt wahrzunehmen, wie häufig sich dieses Schicksal des Jüngsten durchsetzt. Besteht die Familie aus Geschäftsleuten, so findet man den Jüngsten zum Beispiel als Dichter oder Musiker. Sind die Geschwister Intellektuelle, so gelangt der Jüngste oft zu einem gewerblichen oder geschäftlichen Beruf. Dabei muß freilich auch die Einengung der Möglichkeiten bei Mädchen in unserer recht unvollkommenen Kultur in Rechnung gezogen werden.

In Hinsicht auf die Charakterologie des Jüngsten hat mein Hinweis auf den biblischen Joseph allgemeine Beachtung gefunden. Ich weiß wohl, wie jeder andere, daß Benjamin der jüngste Sohn Jakobs gewesen ist. Er kam aber 17 Jahre nach Joseph und blieb ihm die längste Zeit unbekannt. Er zählte in Josephs Entwicklung nicht mit. Man kennt ja alle die Fakten, wie dieser Knabe träumend von seiner zukünftigen Größe unter den schwer arbeitenden Brüdern herumging und sie durch seine Träume von seiner Herrschaft über sie, über die Welt, von seiner Gottähnlichkeit heftig verärgerte. Auch wohl, weil er ihnen vom Vater vorgezogen wurde. Aber er wurde die Säule seiner Familie, seines Stammes und weit über diesen hinaus einer der Retter der Kultur. In einzelnen seiner Handlungen und in seinen Werken zeigt sich die Größe seines Gemeinschaftsgefühls.

Die erratende Volksseele hat mehrere solcher Hinweise geschaffen. Viele andere finden sich ebenfalls in der Bibel, wie Saul, David usw. Aber auch in den Märchen aller Zeiten und Völker, in denen sich ein Jüngster findet, bleibt er der Sieger. Man braucht auch nur Umschau zu halten in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, unter den ganz Großen der Menschheit, und wird finden, wie oft der Jüngste zu hervorragender Stellung gekommen ist. Auch als Fehlschlag zählt er oft zu den auffallendsten, was sich immer wieder auf seine Abhängigkeit von einer verwöhnenden Person oder auf Vernachlässigung zurückführen läßt, Positionen, aus denen er seine soziale Minderwertigkeit irrtümlich aufgebaut hat.

Dieses Gebiet der Kinderforschung, auf die Stellung des Kindes in der Kinderreihe bezogen, ist noch lange nicht erschöpft. Es zeigt mit bezwingender Klarheit, wie ein Kind seine Situation und deren Eindrücke als Bausteine benützt, um sein Lebensziel, sein Bewegungsgesetz, und damit auch seine Charakterzüge schöpferisch aufzubauen. Wie wenig da für eine Annahme angeborener Charakterzüge übrigbleibt, dürfte dem Einsichtigen klargeworden sein. Bezüglich anderer Stellungen in der Kinderreihe, sofern sie nicht die obengenannten imitieren, weiß ich lange nicht so viel zu sagen. Crighton Miller in London machte mich darauf aufmerksam, daß er gefunden habe, wie ein drittes Mädchen nach zwei vorhergehenden einen stärkeren männlichen Protest zeige. Ich konnte mich öfters von der Richtigkeit seines Befundes überzeugen und führe ihn darauf zurück, daß ein solches Mädchen die Enttäuschung der Eltern spürt, errät, manchmal auch erfährt und seine Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle irgendwie zum Ausdruck bringt. Man wird nicht überrascht sein, bei diesem dritten Mädchen eine stärkere Trotzstellung zu entdecken, die zeigt, daß, was Charlotte Bühler als »natürliches Trotzstadium« gefunden haben will, besser als Kunstprodukt verstanden werden kann, als dauernder Protest gegen wirkliche oder vermeintliche Zurücksetzung, im Sinne der Darlegungen der Individualpsychologie.

Über die Entwicklung eines einzigen Mädchens unter Knaben und eines einzigen Knaben unter Mädchen sind meine Untersuchungen nicht abgeschlossen. Nach meinen bisherigen Befunden erwarte ich zu finden, daß sich beide in Extremen zeigen, mehr nach der männlichen oder mehr nach der weiblichen Richtung zielend. Nach der weiblichen, wenn ihnen diese als erfolgreicher in der Kindheit zur Empfindung gebracht wurde, mehr nach der männlichen, wenn ihnen die Männlichkeit als begehrenswertes Ziel erscheint. Im ersteren Falle wird man Weichheit und Anlehnungsbedürfnis in gesteigertem Maße finden, mit allen Arten und Unarten, im zweiten Falle offene Herrschsucht, Trotz, aber gelegentlich auch Mut und ehrbares Streben.

 

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1) Siehe Groos, Spiele der Kinder.

2) Siehe Dr. Deutsch, Klavierunterricht auf individualpsychologischer Grundlage.

3) Siehe A. Adler, Über den nervösen Charakter, l. c.

4) Siehe Holub, Internat. Zeitschr, f. Indiv. 1933.

5) Siehe A. Adler, Über den nervösen Charakter, l. c.


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