5. Angst (Schreck).


Eine überragende Bedeutung im Leben der Menschen hat die Angst. Dieser Affekt ist dadurch kompliziert, daß er nicht nur ein trennender Affekt ist, sondern in seiner Folge, ähnlich wie bei der Trauer, zu einer eigenartigen Bindung an die andern führt. Ein Kind reißt sich z. B. in seiner Angst aus einer Situation los, es läuft aber zu einem andern. Nun führt aber der Mechanismus der Angst nicht direkt zur Darstellung einer Überlegenheit über die Umgebung, sondern scheinbar zunächst zur Darstellung einer Niederlage. Die Attitüde ist hier die einer Verkleinerung. Von hier aus beginnt die verbindende Seite dieses Affektes, die gleichzeitig das Verlangen nach Überlegenheit in sich birgt: der Ängstliche flüchtet in den Schutz einer anderen Situation und sucht sich auf diese Weise zu verstärken, um der Gefahr wieder gewachsen zu sein und über sie zu triumphieren.

Wir haben es bei diesem Affekt mit einem organisch tiefwurzelnden Vorgang zu tun. Es ist die Urangst aller Lebewesen, die sich darin wiederspiegelt. Beim Menschen insbesondere hat sie ihren Grund in seiner allgemeinen Unsicherheit und Schwäche der Natur gegenüber. Die Erkenntnis von den Schwierigkeiten des Lebens ist so mangelhaft, daß sich z. B. das Kind allein nicht zurechtfindet, so daß andere für das eintreten müssen, was ihm mangelt. Dieser Schwierigkeiten wird das Kind gefühlsmäßig inne, sobald es ins Leben tritt und im Augenblicke, wo die Bedingungen der Außenwelt einsetzen. Immer ist die Gefahr vorhanden, daß es bei seinem Streben, aus seiner Unsicherheit herauszukommen, scheitert und eine pessimistisch gerichtete Lebensanschauung bekommt, wobei es Charakterzüge entwickelt, die mehr mit der Hilfe und Rücksicht der Umgebung rechnen. Die Vorsicht, die so entwickelt wird, ist ebensogroß, wie die Entfernung von den Lebensaufgaben. Sind solche Kinder aber einmal genötigt, doch vorzurücken, dann tragen sie in sich schon den Rückzugsplan, sind immer halb zur Flucht gewendet und einer ihrer häufigsten und auffallendsten Affekte ist die Angst.

Schon in den Ausdrucksbewegungen dieses Affektes, besonders in der Mimik, finden wir den Anfang einer Gegenaktion, die aber nicht geradlinig, aggressiv ist. Manchmal sind solche Erscheinungen in krankhafter Weise ausgeartet und ermöglichen uns in vielen Fällen einen besonders leichten Einblick in das seelische Getriebe. Wir haben dann die deutliche Empfindung, als griffe die Hand des Ängstlichen nach einem andern, um ihn an sich heranzuziehen und festzuhalten.

Die weitere Untersuchung dieser Erscheinung führt zu jenen Erkenntnissen, die wir schon bei der Erörterung des Charakterzuges der Angst kennengelernt haben. Es handelt sich immer um Menschen, die jemand zur Unterstützung für ihr Leben suchen; es soll immer jemand zu ihrer Verfügung stehen. In Wirklichkeit ist es nichts anderes, als ein Versuch der Herstellung eines Herrschaftsverhältnisses, wie wenn der andere nur dazu da wäre, um für den Ängstlichen eine Stütze abzugeben. Dringt man noch weiter vor, so findet man, daß diese Menschen mit dem Anspruch im Leben herumgehen, man müsse sich ihrer ganz besonders annehmen. Ihre Selbständigkeit ist mangels eines richtigen Kontaktes mit dem Leben so weit verloren gegangen, daß sie mit außerordentlicher Sehnsucht und Heftigkeit nach diesem Privileg verlangen. Wie sehr sie auch die Gesellschaft der anderen suchen, sie haben dennoch nur wenig Gemeinschaftsgefühl. So kann die Darstellung der Angst dazu führen, sich eine privilegierte Stellung zu verschaffen, Forderungen des Lebens auszuweichen und andere in den eigenen Dienst zu stellen. Schließlich nistet sich die Angst in alle Beziehungen des täglichen Lebens ein. Sie ist zum wirksamen Mittel geworden, die Umwelt zu beherrschen.


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