[Das älteste Kind.]


Auch der Älteste hat charakteristische Merkmale. Vor allem hat er den Vorteil einer ausgezeichneten Position für die Entwicklung seines Seelenlebens. Schon aus der Geschichte ist uns bekannt, daß er immer eine besondre, günstigere Position gehabt hat. Bei manchen Völkern und Volksschichten hat sich diese Vorzugsstellung traditionell erhalten. Es ist keine Frage, daß z. B. bei der Bauernschaft der Erstgeborene schon von Kindheit an seine Berufung kennt, einmal den Hof zu übernehmen und dadurch sich in einer viel besseren Situation befindet als die andern, die mit der Empfindung aufwachsen, daß sie das Vaterhaus einmal verlassen müßten. Auch sonst wird in vielen Familien damit gerechnet, daß der älteste Sohn einmal Herr des Hauses sein werde. Auch wo diese Tradition nicht ins Gewicht fällt, wie bei den einfachen bürgerlichen oder in Proletarierfamilien, ist der Älteste wenigstens derjenige, dem so viel Kraft und Klugheit zugemutet wird, daß man ihn zum Mithelfer und zur Aufsichtsperson macht. Man muß sich vorstellen, was es für ein Kind bedeutet, in dieser Weise ununterbrochen mit dem ganzen Vertrauen der Umgebung beladen zu sein. Das erzeugt in ihm eine Stimmung, die sich ungefähr in Gedankengängen ausdrückt, wie: du bist der Größere, Stärkere, Ältere, mußt daher klüger sein wie die andern u. dgl.

Wenn die Entwicklung in dieser Richtung ohne Störung verläuft, dann werden wir beim Ältesten Züge finden, die ihn als Hüter der Ordnung charakterisieren. Solche Menschen haben ihre eigene, besonders hohe Wertschätzung für die Macht, sowohl für ihre eigene, persönliche Macht wie auch in ihrer Schätzung des Machtbegriffes. Für den Ältesten ist Macht etwas Selbstverständliches, etwas, das Gewicht hat und sich durchsetzen muß. Es läßt sich nicht verkennen, daß solche Menschen in der Regel auch einen konservativen Zug haben.

Auch bei den Zweitgeborenen findet sich das Streben nach Macht und Überlegenheit in einer eigenen Nuancierung. Sie stehen wie unter Dampf, streben überhitzt nach dem Vorrang und auch in ihrem Verhalten wird man den Wettlauf gewahr, der für ihr Leben die Form abgibt. Der Zweitgeborene empfindet es als einen starken Anreiz, daß jemand vor ihm ist, der sich geltend macht. Ist er in der Lage, seine Kräfte zu entwickeln und mit dem Ersten den Wettkampf aufzunehmen, dann wird er gewöhnlich mit starkem Elan nach vorwärts drängen, während sich der Erste, im Besitze seiner Macht, verhältnismäßig sicher fühlt, bis ihm der andere über den Kopf zu wachsen droht.

An dieses Bild werden wir lebhaft durch die Legende von Esau und Jakob erinnert. Hier sehen wir das Ruhelose, ein Streben, das weniger auf die Tatsachen ausgeht, sondern meist nur auf Schein, aber unbezwingbar, bis entweder das Ziel erreicht, der Vordermann überflügelt ist, oder nach mißlungenem Kampf der Rückzug beginnt, der oft in Nervosität ausmündet. Die Stimmung des Zweiten ist dem Neid der besitzlosen Klassen vergleichbar, mit der vorherrschenden Stimmung des Zurückgesetztseins. Sein Ziel kann so hoch gesteckt sein, daß er sein Leben lang daran leidet und seine innere Harmonie vernichtet wird als Folge davon, daß er die wahren Tatsachen des Lebens zugunsten einer Idee, einer Fiktion, eines wertlosen Scheines übersehen hat.


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