Hirtengedichte - Gattungen der Hirtenlieder


Ihr allgemeiner Charakter ist darin zu suchen, dass der Inhalt und der Vortrag mit den Sitten und dem Charakter eines glücklichen Hirtenvolks überein stimme. Die Arten aber können vielfältig sein, episch, dramatisch und lyrisch. Wir haben in der Tat in allen drei Hauptgattungen schöne Muster. Episch sind die bekannten Hirtenromanen, alter und neuerer Dichter. Dramatisch der Pastor Fido, Geßners Evander und verschiedene andere Stücke der Neuern. Die satyrischen Stücke der Griechen können einigermaßen hierher gerechnet werden. Lyrisch sind die Bukolien, Idyllen und Eklogen der Alten und Neuern.

Der Dichter der Hirtenlieder versetzt sich so wohl für seine Person als für seine Materie in den Hirtenstand. Daher muss seinem Gedicht, sowohl in Absicht auf die Materie als auf die Form und den Vortrag, der Charakter dieses Standes genau eingeprägt sein. Man muss darin eine Welt erkennen, in welcher die Natur allein Gesetze gibt. Durch keine bürgerliche Gesetze, durch keine willkürliche Regeln des Wohlstandes eingeschränkt, überlassen die Menschen sich den Eindrücken der Natur, über welche sie wenig nachdenken. Diese Menschen kennen keine Bedürfnisse als die unmittelbaren Bedürfnisse der Natur, keine Güter als ihre Gaben und was zum Zeitvertreib ihres müßigen Lebens dient. Ihre Hauptleidenschaft ist Liebe, aber eine Liebe ohne Zwang, ohne Verstellung und ohne platonische Veredlung. Ihre Künste sind Leibesübungen, Gesang und Tanz. Ihr Reichtum ist schönes und fruchtbares Vieh; ihre Gerätschaft ein Hirtenstab, eine Flöte und ein Becher. Also sind die Hirtenlieder Gemälde aus der noch ungekünstelten sittlichen Natur und desto reizender, weil sie uns den Menschen in der liebenswürdigen Einfalt einer natürlichen Sinnesart vorstellen.

Es gibt eine Gattung der Hirtenlieder, die ganz allegorisch ist. Der Dichter, der von sich selbst, von seinen Angelegenheiten, von seinem Schikcksal zu sprechen hat, nimmt die Person eines Hirten an und sucht in dem Hirtenstand die Bilder auf, die durch Ähnlichkeit dasjenige malen, was er ausdrücken will; so wie der Fabeldichter in der thierischen Welt die Bilder der sittlichen Handlungen sucht. Dieses gibt ihm die Bequemlichkeit von sich selbst, von seinen Freunden, Wohltätern und von seinen Feinden, auf eine feine Art zu sprechen, Lob und Tadel auf eine verdeckte und darum nachdrücklichere Weise auszuteilen. Vortreffliche Beispiele dieser Art haben wir an einigen Eklogen des Virgils, vornehmlich an der ersten und zehnten; an den Idillen der Frau des - Houlieres, die man nicht ohne innigste Rührung lesen kann. Diese Gattung kann sich bis zum erhabensten Inhalt empor schwingen, wie wir an Popens Messias sehen. Dieses scheint die feineste Gattung der Allegorie zu sein.

Da Einer unserer berühmtesten und größten Dichter mir vor etlichen Jahren seine Gedanken über die Idille zugeschickt hat, so will ich sie mit seiner Erlaubnis hier ganz einrücken.


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