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III. [Die Objektivität der Wahrheit wie die des Wertes als Relation subjektiver Elemente]

 

In dieser Form des Aufeinanderangewiesenseins der Denkrichtungen begegnen sich allgemeine wie spezielle Erkenntniskomplexe. Sucht man das Verständnis der Gegenwart in politischen, sozialen, religiösen und sonstigen Kulturhinsichten, so wird es nur auf historischem Wege zu gewinnen sein, also durch Erkenntnis und Verständnis der Vergangenheit. Diese Vergangenheit selbst aber, von der uns nur Fragmente, stumme Zeugen und mehr oder weniger unzuverlässige Berichte und Traditionen überkommen sind, wird uns doch nur aus den Erfahrungen unmittelbarer Gegenwart heraus deutbar und lebendig. Wie viele Umbildungen und Quantitätsänderungen auch dazu erforderlich seien, jedenfalls ist die Gegenwart, die uns der unentbehrliche Schlüssel für die Vergangenheit ist, doch nur durch diese selbst verständlich, und die Vergangenheit, die allein uns die Gegenwart verstehen läßt, ohne die Anschauungen und Fühlbarkeiten eben dieser Gegenwart überhaupt nicht zugängig. Alle historischen Bilder erzeugen sich in dieser Gegenseitigkeit der Deutungselemente, von denen keines das andere zur Ruhe kommen läßt: das abschließende Begreifen ist in die Unendlichkeit hinaus verlegt, da jeder in der einen Reihe erreichte Punkt uns zu seinem Verständnis an die andere verweist. Ähnlich verhält es sich mit der psychologischen Erkenntnis. Jeder uns gegenüberstehende Mensch ist für die unmittelbare Erfahrung nur ein lauterzeugender und gestikulierender Automat; daß hinter dieser Wahrnehmbarkeit eine Seele steckt und welches die Vorgänge in ihr sind, können wir ganz allein nach der Analogie mit unserem eigenen Innern erschließen, das das einzige uns unmittelbar bekannte seelische Wesen ist. Andrerseits wird die Kenntnis des Ich nur an der Kenntnis der Anderen groß, ja die fundamentale Zerfällung des Ich in einen beobachtenden und einen beobachteten Teil kommt nur nach Analogie des Verhältnisses zwischen dem Ich und anderen Persönlichkeiten zustande. An den Wesen außer uns, die wir nur durch die Seelenkenntnis unser selbst deuten können, muß sich demnach eben diese Kenntnis selbst orientieren. So ist das Wissen um die seelischen Dinge ein Wechselspiel zwischen dem Ich und dem Du, jedes weist von sich aus auf das andere - gleichsam ein stetes Auswechseln und Tauschen der Elemente gegeneinander, in dem sich die Wahrheit nicht weniger als der wirtschaftliche Wert erzeugt.

Und endlich, noch weiter ausgreifend: der neuzeitliche Idealismus leitet die Welt aus dem Ich ab, die Seele erschafft, gemäß ihren Rezeptivitäten und produktiven Formungskräften die Welt, die einzige, von der wir sprechen können und die für uns real ist. Andrerseits aber ist diese Welt doch der Ursprung der Seele. Von dem glühenden Stoffball, als den wir uns den früheren Zustand der Erde denken können und der keinem Leben Raum gab, hat eine allmähliche Entwicklung bis zu der Möglichkeit der Lebewesen geführt und diese, zuerst noch rein materiell und seelenlos, haben schließlich, wenn auch auf unbekannten Wegen, die Seele erzeugt. Wenn wir historisch denken, so ist die Seele, mit all ihren Formen und Inhalten, ein Produkt der Welt - eben dieser Welt, die doch, weil sie eine vorgestellte ist, zugleich ein Produkt der Seele ist. Werden diese beiden genetischen Möglichkeiten in starrer Begrifflichkeit fixiert, so ergeben sie einen beängstigenden Widerspruch. Anders aber, wenn jede als ein heuristisches Prinzip gilt, das mit der anderen in dem Verhältnis von Wechselwirkung und gegenseitigem Sich-Ablösen steht. Nichts steht dem Versuch im Wege, jeden beliebigen gegebenen Zustand der Welt aus den seelischen Bedingungen herzuleiten, die ihn als einen Vorstellungsinhalt produziert haben; ebensowenig aber dem weiteren, diese Bedingungen auf die kosmischen, historischen, sozialen Tatsachen zurückzuführen, aus denen eine mit diesen Kräften und Formen ausgestattete Seele entstehen konnte; das Bild jener, der Seele äußerlichen Tatsachen, mag nun seinerseits wieder aus den subjektiven Voraussetzungen des naturwissenschaftlichen und historischen Erkennens abgeleitet werden und diese wiederum aus den objektiven Bedingungen ihrer Genesis, und so fort ins Unabsehliche. Natürlich verläuft das Erkennen niemals in diesem reinlichen Schema, sondern völlig fragmentarisch, abgebrochen, zufällig mischen sich die beiden Richtungen; aber ihren prinzipiellen Widerspruch löst die Verwandlung beider in heuristische Prinzipien, durch die ihr Gegeneinander in eine Wechselwirkung und ihre gegenseitige Verneinung in den unendlichen Prozeß der Betätigung dieser Wechselwirkung aufgelöst wird.

 


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