Gezwungen

Gezwungen. (Schöne Künste) Der Zwang entsteht allemal aus einer fremden außer der Sache, die dadurch modifiziert wird, liegenden oder ihr nicht natürlichen Kraft oder Ursache. Ein gezwungenes Lächeln oder Freundlichtun ist das, was aus der uns einleuchtenden gegenwärtigen Gemütsfaßung eines Menschen nicht folgen kann, sondern aus einer fremden Ursache wider den guten Willen oder wider die Natur angenommen ist; gezwungene Manieren in dem Betragen der Menschen sind die, von denen wir eine, der gegenwärtigen Lage der Sachen fremde, das natürliche Betragen unterdrückende oder zurückhaltende Ursache zu entdecken vermeinen. Das Gezwungene tut allemal in irgend einem Stück unserer Vorstellungskraft Gewalt an; wir glauben zu fühlen, dass die Sache nicht so sein sollte und dass eine fremde Kraft oder Ursache die natürliche Beschaffenheit der Dinge verändert habe. Es ist eine Lüge, die man uns für eine Wahrheit aufdringen will. Wir nennen in der Handlung des Drama dasjenige Gezwungen, was unserem Vermuten nach aus der Lage der Sache nicht so kommen kann. Allgemein entdecken wir zugleich, dass der Dichter Absichten gehabt hat, die er durch einen natürlichen Lauf der Handlung nicht erreichen konnte und die ihn veranlasst haben, den Sachen Gewalt anzutun.

Das Gezwungene ist überall anstößig, weil es einen Streit in unserer Vorstellung verursacht und weil man gezwungen wird, sich die Sachen anders vorzustellen als es die Gründe, die wir vor uns haben, fordern. Darum gehört es in den Werken der Kunst unter die wesentlichsten Fehler. Was gefallen oder sonst auf eine Weise in die Vorstellungskraft dringen soll, dass es sich derselben gleichsam einverleibt, muss völlig ungezwungen sein: der Wille lässt sich noch eher zwingen als der Verstand, der schlechterdings keinen Zwang zulässt.

Also hat sich ein Künstler für nichts sorgfältiger in Acht zu nehmen als vor dem Gezwungenen. Es entsteht allemal daher, dass man seinen eigenen Vorstellungen und Empfindungen Zwang antut, so wie in unseren Handlungen und Reden dasjenige Gezwungen wird, was wir ungerne, gegen unsere Sinnesart und Empfindung, äußeren wollen. Der Philosoph, der sich vorgenommen hat einen Satz zu beweisen, dessen Wahrheit er nicht deutlich einsieht, ist genötigt seine Vernunftschlüsse gleichsam mit Gewalt nach dem vorgesetzten Ziel einzulenken; und dadurch werden sie Gezwungen. Eben so geht es dem Dichter, der in der Epopee oder in dem Drama einen gewissen Ausgang der Sachen vorher festsetzt, ehe er deutlich sieht, dass die Sachen sich zu demselben entwickeln können. Dadurch wird er verleitet, ihnen irgendwo eine unnatürliche und gewaltsame Lenkung zu geben. Auch fällt man gemeiniglich in das Gezwungene, wenn man sich selbst zur Arbeit zwingen muss, ehe der Geist oder die Empfindung von dem Gegenstande völlig eingenommen und dadurch in die nötige Wirksamkeit gesetzt worden. Wer ohne den Beistand der Muse oder gar gegen ihren Wink arbeiten will, wird gewiss in das Gezwungene fallen.

Wer es vermeiden will, muss nie arbeiten, bis er ganz von seinem Gegenstand eingenommen, einen wahren inneren Trieb empfindet, aus der Fülle seiner Vorstellungen dasjenige heraus zu suchen, was nach Wahl und Überlegung das Natürlichste und Schicklichste ist. Die Leichtigkeit, womit er in einem solchen Zustand arbeitet, wird ihn vor dem Gezwungenen bewahren. Hiernächst muss man sich nie ein Ziel völlig fest setzen, bis man den Weg, der dahin führt, wirklich vor Augen sieht. Der Künstler muss dahin gehen, wohin seine Materie ihn lenkt und nie fremde Absichten haben, zu deren Erreichung er seinem Stoff etwas ihm nicht zugehöriges einzumischen nötig hätte. Je mehr ein Mensch seine eigenen Gedanken und Empfindungen genau zu beobachten gewohnt ist, je leichter wird es ihm, ungezwungen und natürlich zu sein. Nur den besten Genien gelinget es, das Gezwungene, wo es den Umständen nach unvermeidlich ist, zu verbergen und ihm den Schein des Leichten oder Natürlichen zu geben.


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