§ 60. I. Persönlichkeit und Methode.


1. Leben und Schriften.

Arthur Schopenhauer, am 22. Februar 1788 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns in der freien Reichsstadt Danzig geboren, sollte nach seines Vaters Willen statt der gelehrten Schulbildung das »große Buch der Welt« kennen lernen und bereiste deshalb mit seinen Eltern vom 15. bis 17. Lebensjahre halb Europa. Das Hamburger Geschäft, in das er sodann auf den Wunsch des Vaters trat, verließ er anderthalb Jahre nach dessen Tode und zog nun (1807) zu seiner Mutter Johanna, der bekannten Romanschriftstellerin, nach Weimar, wo er sich so rasch die Gymnasialbildung erwarb, dass er schon Herbst 1809 die Universität Göttingen beziehen konnte. Hier studierte er auf des Skeptikers G. E. Schulze (§ 45) Rat vor allem Plato und Kant, daneben die heiligen Schriften der Inder. In Berlin (1811/12) enttäuschte Fichte den schon damals selbständig urteilenden, aber auch zur Herabsetzung anderer geneigten Jüngling stark, dagegen trieb dieser eifrig das Studium einer Reihe von Sprachen sowie das der Naturwissenschaften.

Während des beginnenden Freiheitskrieges schrieb er in völliger Zurückgezogenheit zu Rudolstadt seine Dissertation: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, mit der er in Jena zum Doktor promovierte (2. Aufl. 1847, 3. von ihm selbst noch vorbereitete Aufl. ed. Frauenstädt 1864). In den Winter 1813/14 fällt auch der Anfang seines Verkehrs mit Goethe, der ihn zu der kleinen Schrift Über das Sehen und die Farben (1816) anregte. Anfang 1819 erschien sein in den Jahren 1814 bis 1818 zu Dresden ausgearbeitetes Hauptwerk: Die Welt als Wille und Vorstellung. In ihm liegt seine Weltanschauung im ganzen und großen bereits fertig vor; in der Folge gestaltet sie sich nur noch aus, nicht mehr um. Im Frühjahr 1820 habilitierte er sich in Berlin, hatte aber mit seinen Vorlesungen kein Glück (nur in seinem ersten Dozentensemester brachte er überhaupt ein Kolleg zustande), vielleicht wegen seines ostentativen Gegensatzes zu dem allmächtigen Hegel; doch hat er, nach einer dreijährigen Abwesenheit in Italien, München und Dresden (1822 - 25), von 1826/27 bis 1831/32 solche noch angekündigt. 1831 verläßt er der Cholera wegen Berlin, um nicht wieder dahin zurückzukehren. Sommer 1833 siedelt er endgültig nach Frankfurt a. M. über und bringt hier den ganzen Rest seines Lebens als einsamer Sonderling zu. Aus diesen persönlichen Erfahrungen und der Nichtbeachtung seiner Werke durch die gelehrte Welt erklärt sich sein oft hervorbrechender Haß gegen die Philosophie-Professoren, die »von der Philosophie, nicht für sie lebten« Dennoch schreibt er weiter: 1836 Über den Willen in der Natur, 1837 Über die Freiheit des menschlichen Willens (»von der Drontheimer Sozietät der Wissenschaften gekrönte Preisschrift«), 1839 Über die Grundlage der Moral (»von der Kopenhagener Sozietät der Wissenschaften« wegen ihrer heftigen Ausfälle gegen Fichte und Hegel »nicht gekrönt«); beide erschienen 1840 vereinigt unter dem Titel Die beiden Grundprobleme der Ethik. 1844 veröffentlichte er einen Ergänzungsband zu seinem Hauptwerk, mit einer zweiten Auflage des ersten Bandes, 1851 die beiden Bände: Parerga und Paralipomena. Die letzteren, eine Sammlung von kleinen, gewandt und geistvoll geschriebenen, populären Aufsätzen zur Erläuterung seiner Ideen, begannen endlich das Eis der Nichtbeachtung zu durchbrochen. Während er bis dahin nur ganz vereinzelte Anhänger - wie Frauenstädt 1840, von Doß 1849 - gewonnen hatte, wurden jetzt neue Auflagen seiner Werke nötig, er fand allmählich in weiteren Kreisen Beachtung, und 1856 stellte zu seiner großen Genugtuung die philosophische Fakultät einer deutschen Universität (Leipzig) eine Preisaufgabe, die seine Philosophie betraf. Im Genüsse seines beginnenden Ruhmes, noch voller Schaffenslust, starb er plötzlich am 21. September 1860.

Bei keinem anderen Philosophen - abgesehen vielleicht von Nietzsche - ist seine Philosophie in dem Maße wie bei Schopenhauer eine Widerspiegelung seiner Persönlichkeit, welche letztere man daher aus seinen Schriften, besonders den ethischen, am besten kennen lernt. Und doch zeigt anderseits sein Charakter wiederum Schattenseiten, die seinen idealistischen Lehren schnurstracks entgegenlaufen: Menschenverachtung, Liebe zum Leben, ja zum Gelde, Selbstgefälligkeit, Sinnlichkeit. Er wollte ein System aus einem Gusse schaffen. Gelungen ist ihm dies, insofern seine Philosophie innerlich von ihm erlebt ist, während man, rein inhaltlich genommen, die verschiedenen philosophischen Fäden (Vedantaphilosophie, Buddhismus, Plato, Berkeley, Kant u. a.) nachweisen könnte, aus denen sie zusammengeschlungen ist.

2. Methode der unmittelbaren Anschauung.

Philosophie ist für Schopenhauer weit mehr als Wissenschaft, nämlich »Totalanschauung«, Lebenskunst, Erkenntnis des Sinnes und Wesens der Welt. Von seinem erkenntnistheoretischen Anfang wendet er sich sehr bald der Metaphysik zu. Immer wieder versichert er, dass der letzte Grund und die Quelle aller Wahrheit in der - unmittelbaren Anschauung liege. »So lange wir uns rein anschauend verhalten, ist alles klar, fest und gewiß.« Unsicherheit und Irrtum beginnen erst mit der Reflexion. Logik, Mathematik, reine Naturwissenschaft, die man für die evidentesten Wissenschaften erklärt, sie alle haben ihre Evidenz nur von der »unmittelbaren Anschauung« Nur durch diese oder durch unmittelbare oder mittelbare Beziehung auf sie können wir unbedingte Wahrheit erlangen. Jene Wissenschaften erzeugen nicht größere Gewißheit des Wissens, sondern erleichtern dasselbe nur durch ihre systematische Form. Die Logik z.B. will nur »das, was uns im einzelnen unmittelbar mit der größten Sicherheit bewußt ist, erst mit unsäglicher Mühe aus bloßen Regeln ableiten« Die euklidische Geometrie ist ihm eine Krücke für gesunde Beine, einem Taschenspielerkunststück nicht unähnlich, die ganze Arithmetik eine bloße Methode zur Abkürzung des Zählens. Auch die Urteilskraft vermag nur aus anschaulichen Elementen die richtigen Begriffe, Regeln, neuen Einsichten und Richtersprüche zu gewinnen, wie auch die Tugend aus der »ursprünglichen, unvernünftigen« Tiefe des Willens erwächst (näheres s. unten). Schopenhauer zählt also, trotz seiner heftigen Bekämpfung der »Windbeutel« von romantischen Philosophen, wenn auch in anderem Sinne wie sie, ebenfalls zu der Philosophie der Romantik.


 © textlog.de 2004 • 18.04.2024 22:29:58 •
Seite zuletzt aktualisiert: 29.10.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright