1. Die Substanz als Kraft
(Dynamik)


In dem längeren Aufsatze des Journal des Savants von 1695, in dem Leibniz zum erstenmal sein Neues System der Natur in die Öffentlichkeit brachte, gibt er Auskunft über seinen bisherigen philosophischen Entwicklungsgang: Er sei schon tief in die Scholastik eingedrungen gewesen, als ihn die Mathematik und die Begründer der neueren Mechanik durch »ihre schöne Art, die Natur auf mechanische Weise zu erklären« entzückt und von dem Joche des Aristoteles und den substantiellen Formen befreit hätten. Er sei dann »bereits in früher Jugend« zunächst auf die Atome und das Leere verfallen, habe sich aber »nach vielem Nachdenken« davon überzeugt, dass die »Prinzipien wahrer Einheit« im Stoffe allein nicht zu finden seien, und deshalb seine Zuflucht zu einem »formalen« Atome genommen, da nur ein solches mit wahrer Einheit begabt sein könne. So habe er allerdings die berüchtigten »substantiellen Formen« wieder ins Leben gerufen, aber in einem neuen Sinne, demjenigen nämlich »ursprünglicher Kräfte«. Zur Reife gelangten diese Ansichten in ihm erst Mitte der achtziger Jahre; denn 1697 schreibt er in einem Briefe: »Ich habe meine Anschauungen den neuen Kenntnissen gemäß, die ich erwarb, geändert und wieder geändert, und erst vor ungefähr zwölf Jahren fühlte ich mich befriedigt«. Anfang 1686 sandte er denn auch an Arnauld einen Petit discours de métaphysique, in dem der Kern seines späteren Systems bereits enthalten ist.

Als metaphysische Grundfrage gilt auch ihm, wie Descartes und Spinoza, das Problem; der Substanz. Von Spinoza, dem er sich stets von allen Philosophen am ablehnendsten gegenüberstellt (offenbar wegen seines »Atheismus«), redet er an dieser Stelle nicht; um so nachdrücklicher von Descartes, dessen Regulae er zu Paris im Manuskript kennen gelernt und sich abgeschrieben, und der ihn sein ganzes Leben hindurch, in Übereinstimmung wie Gegensatz, nachhaltig beeinflußt hat. Descartes habe zwar »manches Vortreffliche vorgebracht, insbesondere den Geist vom Sinnlichen abgelenkt«, aber er habe den Fehler gemacht, den Substanzbegriff der bloßen Ausdehnung gleichzusetzen. Leibniz sah demgegenüber richtig, dass der physische Gegenstand mehr enthält als der bloß mathematische, dass zu der Extension das unausgedehnte Intensive hinzukommen muß. Dieser Gedanke führt ihn zu der Aufstellung des Kraftbegriffs und einer neuen »besonderen Wissenschaft«: der Dynamik. Die Kraft ist »der gegenwärtige Zustand der Bewegung selbst, sofern er zu einem folgenden strebt oder einen folgenden im voraus involviert«.

Es gibt keine Substanz ohne Kraftäußerung. Jede Substanz ist tätig, und alles Tätige (Wirkende) heißt Substanz. Was nicht wirkt (agit), existiert auch nicht. Es gibt nichts ausschließlich Materielles, sondern jede Größe (Masse) ist »un être capable d'action«, ein »der Wirksamkeit fähiges Wesen«. Alle Materie ist mit dieser Kraft erfüllt, durch welche die Dinge erst wahrhaft zu Dingen werden. So ist auch das, was in allem Wechsel erhalten bleibt, nicht sowohl die Quantität der Bewegung als vielmehr die bewegende Kraft, denn diese ist der letzte Grund der Bewegung. Seinen neuen Kraftbegriff will Leibniz ausdrücklich von der »tätigen Macht« der Scholastiker unterschieden wissen, die erst eines Ansporns von außen bedarf, um in Wirksamkeit zu treten. Wenn er auch zur Kennzeichnung desselben verschiedentlich aristotelische Ausdrücke, wie: Entelechie, Form, zweite Materie, gebraucht, so ist doch tatsächlich dieser »metaphysische Begriff« dem »Gesetz« nahe verwandt.

Voraussetzung seiner Anwendung ist der gesetzmäßige Zusammenhang der Natur. Der Satz von der Erhaltung der Kraftsumme wird ein Naturgesetz, ja die »Grundlage der Naturgesetze« genannt und schließt jeden willkürlichen Eingriff übernatürlicher Mächte aus. Die gesamte im Weltall enthaltene Kraftmenge nennt Leibniz die »unbedingte« Kraft und teilt sie in die richtunggebende und die bezügliche oder Druckkraft.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 10:11:22 •
Seite zuletzt aktualisiert: 31.10.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright