6. Die Vernunft- und die tatsächlichen Wahrheiten


Die Einheit des Bewußtseins erst erzeugt auch die Einheit des Gegenstandes. Gäbe es kein Ich, so gäbe es auch keine »realen« Einheiten; alles an den Körpern wäre dann nur ein »Phantasma«. So aber ist die Materie zwar - keine Substanz, aber »eine wohlfundierte Erscheinung, die kein Hirngespinst ist, wenn man auch auf sie die ideellen Gesetze der Arithmetik, Geometrie und Dynamik anwendet« Die Menschen folgen allerdings bei dreiviertel ihrer Handlungen, blind wie Tiere, der Erfahrung; sie erwarten z.B. den morgigen Tag bloß gewohnheitsmäßig, denn sie halten sich an die bloß zufälligen oder tatsächlichen Wahrheiten. Der Astronom dagegen sieht den kommenden Tag aus wissenschaftlichen Gründen voraus; er vertraut nur den notwendigen oder ewigen Wahrheiten, »nur denen der Logik, der Zahlenlehre, der Geometrie«, die aus der sinnlichen Erfahrung nicht eingesehen werden können. Die Sinne stellen stets nur einzelnes dar, können aber aus sich selbst heraus nie zu so allgemeinen und notwendigen Ideen wie: Substanz, Identität, Notwendigkeit, das Gute, das Wahre, Gott, gelangen. Die Induktion kann wohl zeigen, dass etwas ist, aber nicht, dass es stets und notwendig so ist; sie führt daher bloß zu tatsächlichen Wahrheiten (vérites de fait), nicht zu Vernunftwahrheiten (vérites de raison). Soll Wissenschaft entstehen, so müssen erstere auf die letzteren zurückgeführt werden. Denn, wenn alles Wirkliche von einer höchsten Intelligenz geordnet ist, so müssen auch die »zufälligen« Tatsachen der zeitlichen Erfahrung als logisch notwendig begriffen werden können. Das geschieht durch den schon oben berührten Gedanken, dass in allem Sein ein Werden steckt, dass ein Ding ist, indem es sich in dem Nacheinander seiner verschiedenen Bestimmungen entfaltet. Daher sind auch alle wahrhaften Definitionen - ein schon von Hobbes und Spinoza vorbereiteter Gedanke - kausaler (genetischer) Art. Diese Definitionen treten denn auch bei Leibniz später als gleichwertiges Fundament der Mathematik zu dem Satze der Identität (s. oben) hinzu, ja die identischen Sätze werden an einer anderen Stelle - mit Recht - als bloße Hilfs- und Verbindungsmittel der Definitionen betrachtet. Die Realdefinition des Kreises, ja seine Möglichkeit überhaupt ergibt sich erst aus der Konstruktionsregel, durch die er entsteht. So erweist sich schließlich das gesamte Universum als getragen von einem Inbegriff notwendiger und allgemeiner Vernunftsätze. Nur in diesem Sinne ist die Erkenntnis Gottes zugleich das Prinzip aller Wissenschaft, und sein Geist - wie Leibniz unter Berufung auf Platos Phädo gegen Descartes und Spinoza bemerkt - der »Quell aller Dinge« Wahrhaft unbedingt ist nicht der göttliche Wille - die ewigen Wahrheiten sind unabhängig von ihm -, sondern der göttliche Verstand, d.h. eben der Inbegriff der ewigen Wahrheiten, die wir mit unserem Geist zu erfassen vermögen, und die an die logisch- mathematischen Gesetze gebunden sind.


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