8. Die methodische Begründung der Geisteswissenschaften.


Leibniz' Erkenntnisdrang hat ihn nicht ruhen lassen, bis er auch zu den Prinzipien der Geisteswissenschaften vorgedrungen war. Seine Unterscheidung des Reiches der Natur und des Reiches der Gnade oder der Zwecke führt von selbst zu einer Begründung der Ethik. Hat er nun eine solche auch nicht in zusammenhängender Form und gesonderter Untersuchung vollzogen, sind auch die rein ethischen vielfach von eudämonistischen und religiös-theologischen Begleitgedanken verdeckt, so läßt sich doch aus seinen zerstreuten Bemerkungen über dieses Thema ein fester methodischer Kern herausschälen. Auch das Ideal der Gerechtigkeit wird von demselben methodischen Grundgesetz beherrscht wie die ewigen Wahrheiten der Mathematik und Mechanik. Es ist ebensowenig abhängig von der Tatsache, ob sie und von wem sie ausgeübt wird, wie die Wahrheiten der Zahlenverhältnisse von den gezählten Dingen oder den zählenden Personen abhängen. Und ebensowenig wie dort die notwendigen Wahrheiten der Wissenschaften von der freien Willkür Gottes abhingen, so hier die Ideen des Guten und Gerechten. Dasselbe »universelle Recht« gilt für Gott und die Menschen. Das Licht der ewigen Vernunft würde uns die Tugend lehren, auch wenn keine Offenbarung da wäre. Ja, einmal heißt es sogar in einem rechtsphilosophischen Gedankenbruchstück: Die Religion ist für den Weisen identisch mit der Sittlichkeit und dem Streben nach ihr; nur für denjenigen, der zur wahren Weisheit noch nicht gelangt ist, vermag sie etwas zur Sittlichkeit hinzuzufügen. So sind wenigstens die Grundlinien einer selbständigen Ethik vorhanden, die freilich hinter den Zielgedanken der Glückseligkeit und Vollkommenheit stark zurücktreten. - Noch stärker sind Leibnizens geschichtsphilosophische Ideen von seiner religiösen Auffassung (s. § 14 unter Theodicee) diktiert, wonach die beständige Vervollkommnung nicht bloß des einzelnen, sondern auch des gesamten Menschengeschlechtes im Plane der Vorsehung liegt. - Selbständiger ist seine Rechts- und Gesellschaftsphilosophie. Mit Grotius und gegen Hobbes tritt er lebhaft für die Idee des natürlichen Rechtes gegenüber den positiven Satzungen ein. Auch die Wissenschaft vom Recht beruht nicht auf der Erfahrung; der Begriff des Rechtes würde bleiben, selbst wenn es keine Gesetze auf Erden gäbe. Wir erzeugen ihn aus unserer Vernunft. Und ebenso den Begriff der Gottheit. Der Gottesbegriff bedeutet für Leibniz nicht bloß Quell und Ideal des reinen Erkennens, sondern auch der höchsten Sittlichkeit; und endlich noch ein Drittes: den Gedanken der Vermittlung zwischen den beiden Reichen der Natur und der »Gnade«, d. i. der Sittlichkeit. Der Glaube an Gott bedeutet zugleich den Glauben an die Möglichkeit einer fortschreitenden Verwirklichung des Sittlichen in Natur und Geschichte der Menschheit (Näheres s. bei Görland a.a.O.).

Auch eine selbständige Ästhetik schließlich hat Leibniz zwar noch nicht geschaffen, aber doch vorbereitet. Er trennt an verschiedenen Stellen das ästhetische Empfinden von der Verstandeserkenntnis ab. Es beruht nicht gleich dieser auf den deutlichen, sondern auf den »verworrenen« Vorstellungen (s. oben unter 2.). Unser Wohlgefallen am Schönen hängt nicht von unserem Verstand, sondern von unserem »Gemüte« ab und äußert sich in einer reinen, interesselosen »Kontemplation«, sowie in einem nicht weiter erklärbaren Sympathiegefühl. Als objektives Merkmal aber dient der Begriff der Ordnung. »Wenn nun die Seele in ihr selbst« - es war die Rede von dem Rhythmus der Musik - »eine große Zusammenstimmung, Ordnung, Freiheit, Kraft oder Vollkommenheit fühlet und folglich daran Lust empfindet, so verursachet solches eine Freude.« Und damit in unmittelbarem Zusammenhang wird auch die ästhetische Harmonie auf das große Grundprinzip, das wir in Leibniz' Philosophieren von Anfang an wirksam sahen, zurückgeführt: auf das »Viele aus Einem und in Einem« (Von der Weisheit, Hauptschriften II, S.492 f.). So finden auch die ästhetischen Ideen unseres Philosophen ihren Abschluß in dem letzten Grundgedanken des ganzen Systems: dem Gedanken der universalen Harmonie.

Wir haben im vorigen die methodischen Grundlagen der Leibnizschen Philosophie in knappem Überblick zu skizzieren versucht. Nicht immer treten sie in der Ausführung seines Systems, das wir nun kennen lernen werden, gleich rein und klar hervor. Wie die sittlichen Leitgedanken das theologische, so haben die erkenntnis-kritisch-wissenschaftlichen das metaphysische Gewand vielfach noch nicht abgestreift. Vorausgeschickt werden aber mußte diese Darstellung der wissenschaftlichen Grundlagen und methodischen Leitmotive, weil nur so die Einheitlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Größe sich verstehen läßt, die - trotz aller Schwächen, Unausgeglichenheiten und Anpassungen im einzelnen - der Philosophie Leibnizens innewohnt.


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