1. Leben


Gottfried Wilhelm Leibniz, am 21. Juni 1646 zu Leipzig geboren, verlor früh (1652) seinen Vater, einen Leipziger Rechtsgelehrten und Professor der Moral. Ein frühreifer Knabe, liest er in seines Vaters Bibliothek alles, was ihm vor die Augen kommt, die Alten wie die Scholastiker; er macht sogar lateinische Verse, sodass seine Vormünder anfangs fürchten, er möchte ein Poet, dann, er möchte ein Scholastiker werden. »Sie wußten nicht, dass mein Geist sich nicht durch eine einzige Art von Dingen ausfüllen ließ«, sagte Leibniz später von sich mit Selbstgefühl, bezeichnend auch für seinen philosophischen Charakter. Erst 15jährig, bezieht er die heimische Universität und grübelt schon darüber nach, ob er bei der Scholastik beharren oder sich der neuen Erfahrungsphilosophie anschließen soll. Dem anfänglichen Studium der Rechte und der Philosophie fügt er in Jena das der Mathematik hinzu, wird mit 17 Jahren durch eine Abhandlung De principio individui Baccalaureus, mit 18 durch eine rechtsphilosophische Arbeit Magister und erwirbt sich als 20jähriger - in Leipzig wegen seiner Jugend zurückgewiesen - in dem bayrischen Altdorf durch eine glänzende Disputation »über verwickelte Rechtsfälle« die juristische Doktorwürde. Die ihm dort angebotene Professur, die ihn in das kleinliche Leben gelehrter Pedanten herabzuziehen drohte, schlägt er aus. Er zieht ihr das große Weltleben vor, in das er nun ohne einen bestimmten Plan eintritt. Nachdem er in Nürnberg u. a. mit Alchimisten verkehrt hat, wird er von Christian von Boineburg, dem Vertrauten des Kurfürsten von Mainz, in dessen Dienste und damit in die große europäische Politik hineingezogen. Bei seiner Vielseitigkeit nach den verschiedensten Richtungen hin tätig, arbeitet er nacheinander an der Verbesserung der juristischen Lehrmethode (1667), dem Corpus iuris (1668 f.), einer Schrift gegen die Atheisten (1668-69) und beteiligt sich an seines Gönners Bestrebungen zu einer Wiedervereinigung von Protestanten und Katholiken, wobei er im allgemeinen eine natürliche Religion mit Gottes- und Unsterblichkeitsglauben vertritt, aber doch auch die Dreieinigkeitslehre verteidigt und die lutherische Abendmahlslehre mit - philosophisch- physikalischen Gründen »beweist« (1670). Einen Aufenthalt zu Paris 1672-76, wo er Ludwigs XIV. Eroberungsgelüste durch den Plan einer Besetzung Ägyptens vom Deutschen Reiche ablenken helfen sollte, benutzte er zu geistigen Anregungen mannigfaltigster Art, insbesondere auch zum Studium von Descartes, Hobbes und Spinoza, welchen letzteren er bei seiner Reise durch Holland auch persönlich kennen lernte,*) sowie der Mathematik (Pascal) und Physik (Huyghens), was ihn zur Entdeckung der Differential- und Integralrechnung führte. (Über den jahrzehntelang dauernden Prioritätsstreit mit Newton s. Ueberweg III, S. 194-196). Ende 1676 siedelte er, zum Hofrat und Bibliothekar ernannt, nach Hannover über und schreibt eine von umfangreichen Vorstudien begleitete Geschichte des braunschweigischen Fürstenhauses. Daneben aber beschäftigt er sich mit allen möglichen anderen, zum Teil weit auseinander liegenden Plänen und Gegenständen: Einrichtung einer nationalen Akademie, Reform des Unterrichtswesens, Reinigung der Muttersprache, Wiedervereinigung der Lutheraner, Reformierten und Katholiken, ja aller Kulturvölker zu einem harmonischen »Reich der Geister«, Sorge für das Wohl der ärmeren Klassen, Völkerrecht, Bergbau, Physik, Medizin, Entwurf einer allgemeinen Charakteristik durch wissenschaftliche Zeichen (ähnlich wie sie in der Mathematik üblich sind), Moral der Chinesen, Sprachwissenschaft, und zwar mit allem nach seiner Art gründlich; am liebsten aber doch mit Mathematik und Philosophie. Über alle diese Dinge pflog er dazu noch eine umfangreiche Korrespondenz; in der Bibliothek zu Hannover werden 15000 Nummern seines Briefwechsels mit mehr als 1000 Personen aufbewahrt. Er klagt gelegentlich selbst über die Zerstreutheit seiner Studien und die Masse der sich ihm aufdrängenden neuen Gedanken, die er doch nicht gern abhanden kommen lassen möchte; sodass er oft nicht wisse, was er zuerst erledigen solle. Eine unglaubliche Arbeitskraft, Vielseitigkeit und Beweglichkeit des Geistes! In das Jahrzehnt 1690-1700 fallen seine philosophischen Entwürfe, in das folgende die systematischen Ausführungen, zu denen er gekommen ist. Durch die Vermählung seiner Schülerin, der philosophischen Prinzessin Sophie Charlotte, mit Friedrich I. von Brandenburg- Preußen 1700 nach Berlin gezogen, wurde er der erste Präsident der auf seine Anregung am 11. Juli 1700 dort gestifteten Akademie der Wissenschaften (vergl. die Geschichte derselben von Ad. Harnack, 4 Bde., Berlin 1900). Mit dem Tode seiner königlichen Schülerin (1705) verlor er den rechten Halt in Berlin, das er 1711 endgültig verließ. Dann lebte er zwei Jahre in Wien, wo er für den Prinzen Eugen eine Darstellung seiner Monadenlehre ausarbeitete, die letzten Jahre seines Lebens (1714-16) wieder in Hannover. Er war zwar von seinen fürstlichen Gönnern, zu denen auch Peter der Große gehörte, mit Titeln und Würden versehen, 1690 auch geadelt worden, scheint aber in seinen letzten Jahren diese Gönnerschaften, jedenfalls die Hannoversche, verloren zu haben, während seine Berliner Schöpfung unter dem grobkörnigen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. nur ein trauriges Scheindasein führte. Der Geistlichkeit und dem Volke blieb er als Freigeist verdächtig; aus seinem Namen Leibniz machte der Volksmund »Löve-nix« == Glaubenichts. Über seiner ungeheuren Vielgeschäftigkeit nicht zum Heiraten gekommen, starb Leibniz einsam und verlassen am 14. November 1716. Auf seinem Sarge war sein Wahlspruch angebracht: »So oft eine Stunde verloren wird, geht ein Teil des Lebens zugrunde.« Nur wenige geleiteten ihn damals zu Grabe; jetzt erheben sich in Hannover und Leipzig (1883) Denkmäler zu seinen Ehren.

 

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*) Leibniz wollte später nicht gern an diesen Besuch und seine Unterhaltungen mit dem gefährlichen Denker erinnert sein und war bestürzt, als er einen seiner Briefe in der Spinoza-Ausgabe von 1677 abgedruckt fand.


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