2. Ethische Grundlehren
(Buch IV.)


Was die meisten ethischen Systeme im Grunde sind, aber zu verschweigen lieben, das spricht Spinoza in der Vorrede zum vierten Buche offen aus: seine Ethik will nichts anderes sein als angewandte Psychologie und lehnt die Berufung auf das Ideal mit dürren Worten ab. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf seine bereits in dem wichtigen Anhang zum ersten Buche ausgesprochene Verwerfung aller Teleologie. Die Natur oder Gott handelt nicht um irgendwelcher Zwecke willen, sondern aus ihrer inneren Notwendigkeit heraus; sie fehlt und sündigt nicht. Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Gut und Böse sind nur menschliche Denkweisen oder komparative Begriffe (notiones), die aus dem Vergleiche der Individuen mit der Gattung entspringen, aber »nichts Positives«, wirklich in den Dingen Gelegenes bezeichnen. Beide sind durchaus relative Begriffe; die Musik z.B. ist etwas Gutes für den Schwermütigen, etwas Böses für den Trauernden, weder gut noch böse für den Tauben. Trotzdem will unser Philosoph, weil nun einmal die Menschen sich ein Ideal von ihresgleichen zu bilden pflegen, die Begriffe Gut und Böse in dem gewöhnlichen Sinne gebrauchen. Gut ist das, wovon wir mit Bestimmtheit wissen, dass es dazu dient, jenem Ideal uns mehr und mehr anzunähern, böse, was uns daran hindert. So scheint sich Spinoza dennoch einer ethischen Zweckbetrachtung nicht ganz entziehen zu können. Doch sehen wir weiter.

Zunächst gehen die sich anschließenden Folgerungen ganz naturalistisch fort. Tugend ist nichts anderes als die Macht, nach den Gesetzen der eigenen Natur zu handeln. Nun gibt es kein Einzelding in der Welt, das nicht ein stärkeres über sich hätte. Da wir Menschen aber bloß ein kleiner Teil der Natur sind, wird unsere Macht von der der äußeren Dinge weit übertroffen, der Selbstmörder z.B. völlig von ihr besiegt!. So fallen wir jener »Knechtschaft« oder »Macht der Affekte« anheim, von der das vierte Buch handelt. Weil aber ein Affekt nur durch einen anderen, stärkeren besiegt oder doch eingeschränkt werten kann, so kann die Erkenntnis des Guten und Bösen durch ihre »Wahrheit« allein nichts ausrichten; sie muß vielmehr selbst ebenfalls zum Affekt werden, wenn sie andere Affekte überwinden will, und zwar zum Lustaffekt, der ceteris paribus stärker ist als die aus der Unlust entspringenden, weil er dem Wesen der Menschennatur entspricht. Damit sind wir wieder bei der »Natur «, dem »Wesen « des Menschen angelangt, das einen so großen Raum in Spinozas Denken einnimmt. Eine ganze Reihe weiterer Bestimmungen hängt damit zusammen. Gut ist, was mit unserer Natur übereinstimmt [man fühlt sich, wie überhaupt oft in Spinozas Ethik, an die Stoiker erinnert]. Das Gute und Böse hängt von der Natur des Menschen ab. Es besitzt einer um so mehr Tugend, je mehr er seinen wahren Nutzen sucht, d. i. sein Wesen zu bewahren (suum esse conservare) strebt: was uns auf den Hauptsatz seiner Psychologie (S. 50) zurückführt. Unser Wesen besteht, wie das Wesen jedes Dinges, in der Tendenz, uns selbst zu erhalten (conatus sui conservandi); diese ist »das erste und einzige Fundament der Tugend«.

Prüfen wir aber näher, was hinter diesen vieldeutigen Worten »Wesen« oder »Natur« des Menschen steckt, so entpuppt sich als des naturalistischen Pudels Kern plötzlich die altbekannte - Vernunft. Seinen (wahren) Nutzen suchen == sein Wesen bewahren = frei sein = tugendhaft (ex virtute) handeln, »ist nichts anderes als nach der Leitung der Vernunft (ex ductu rationis) leben«, nach ihren Regeln (regulae) oder Vorschriften (praecepta), Geboten (dictamina) verfahren (vgl. namentlich Satz XXIV, außerdem besonders das wichtige Scholium zu Satz XVIII). Das Wesen der Vernunft wiederum ist »nichts anderes als unser Geist (mens), insofern er klar und deutlich einsieht (intelligit)«, sodass wir hier wieder das Descartessche Kriterium vor uns haben. Vernünftig leben heißt: Intelligenz besitzen. Und »gut« wird jetzt als dasjenige definiert, »was in Wahrheit zur Einsicht beiträgt«. Nur soweit die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, sind sie beständig mit der Natur in Übereinstimmung (XXXV); denn »vernünftig handeln« bedeutet: das tun, was aus der Notwendigkeit unserer »an sich betrachteten« Natur folgt. Vernunft ist also das Innerste Wesen der Dinge. Handlungen, die aus ihr hervorgehen, sind immer »gut« Auf ihr beruht das höchste Glück des Menschen: die Seelenruhe. Der ganze fünfte und letzte Teil der »Ethik« handelt von der »menschlichen Freiheit oder der Macht des Intellekts«. Aus der Erkenntnis des Geistes allein (ex sola mentis cognitione) will er alles ableiten, was auf die menschliche Glückseligkeit abzielt.


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