1. Erkenntnistheoretischer Unterbau


Wie gelangt man, fragt hier der junge Spinoza, zu dem höchsten Gute, das nicht in Reichtum, Ehre und Sinnenlust, sondern in der Erkenntnis der Einheit unseres Geistes mit der gesamten Natur besteht? Dazu gehört mancherlei: genügende Kenntnis der Natur, Einfluß auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, Moralphilosophie, Pädagogik, Technik; vor allem aber die »Verbesserung« des Intellekts und Reinigung desselben von Irrtum. Was aber ist der Intellekt? Zur Beantwortung dieser Frage unterscheidet Spinoza, ähnlich Baco, vier Klassen von Vorstellungen (perceptiones, später auch ideae genannt): 1. Solche, die wir vom bloßen Hörensagen besitzen, z.B. dass ich an dem und dem Tage geboren bin; 2. die aus zusammenhangloser Erfahrung (experientia vaga) stammenden, wie: dass Öl die Flamme nährt, Wasser sie löscht, dass der Hund ein bellendes, der Mensch ein vernünftiges Geschöpf ist; 3. die durch Schließen aus anderen Dingen und deren Eigenschaften auf das Wesen eines Dinges, wie: dass die Sonne größer ist, als sie scheint (weil dies bei anderen entfernten Dingen auch der Fall ist); endlich 4. die Erkenntnis eines Dinges allein aus seinem Wesen heraus oder aus seiner »nächsten Ursache«, wozu die ewigen, vor allem die mathematischen Wahrheiten gehören, wie der Satz 2 + 3 = 5, oder die Lehrsätze von den parallelen Linien. Die Vorstellungen der drei ersten Arten entstammen unserer Einbildungskraft (imaginatio) und schaffen nur eine verworrene, inadäquate, »erste« Erkenntnis, die von zufälligen und unzusammenhängenden Sinneswahrnehmungen und äußeren Ursachen abhängig ist. Die der vierten Art allein verschaffen wahre und sichere Erkenntnisse, die ihren Ursprung in dem Intellekt (anderswo auch ratio, Vernunftdenken, genannt) finden und durch ihre Einfachheit, Klarheit und Deutlichkeit (Descartes!) gekennzeichnet sind (vgl. auch unten S. 47 f.).

Spinozas Lehre von der Definition erinnert an diejenige von Hobbes (s. § 5). Wir selber erzeugen die Dinge nach einer ewigen Ordnung durch die gesetzmäßige Verknüpfung unserer Vorstellungen, z.B. den Kreis durch seine Konstruktion; allerdings nicht die unzählbare Menge der veränderlichen Einzeldinge, wohl aber die »festen und ewigen« Dinge und deren Gesetze. Die Natur und Kraft des Verstandes z.B. folgt, gleich der des Kreises, aus seiner Definition, seiner »wahren Idee«; wie denn die Geometrie allein von allen Wissenschaften den absoluten Zusammenhang des Seins treu und unverfälscht widerspiegelt, weshalb ihre Methode vorbildlich ist. Diese wahren Ideen, zumal in ihrer höheren Form, der intuitiven Erkenntnis (scientia intuitiva), betrachten die Dinge losgelöst von Raum, Zeit und Zahl sub specie quadam aeternitatis. Sie folgen allein aus der Notwendigkeit unserer Natur, sodass sie »von unserer Macht allein abzuhängen scheinen«, und sind um so vollkommener, je vollkommener ihr Gegenstand ist. Die wahre Methode besteht demnach darin, unser Denken, losgelöst von abziehenden nichtigen Außendingen (wie Reichtum, Ehre, Lust) und beruhend auf der Grundlage unserer gesamten Naturerkenntnis, auf die vollkommenste Idee zu richten und aus ihr nach »geometrischer« Weise alle übrigen Ideen des Intellekts abzuleiten. So ist Spinoza an dem Punkt angelangt, wo seine »Ethik« einsetzt, die ihrerseits, ohne weitere erkenntniskritische Einleitung, sogleich mit dem einen Prinzip anhebt, aus dem alles andere abgeleitet wird.


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