A. Naturlehre.


Das breite Erfahrungswissen des Aristoteles auf dem Gebiete der Natur ist bekannt. Ihm gehört die Mehrzahl seiner Schriften an, und nicht nur für seine Zeit, sondern für achtzehn weitere Jahrhunderte ist er der allein anerkannte Lehrer auf diesem Felde gewesen. Seinem enzyklopädischen Wissen, seiner Freude an Einzelheiten, seiner großartigen Beobachtungslust und -kraft stehen freilich auch merkliche Schwächen wie ein Zurückschrecken vor wahrhaft kühnen und tiefen Ideen, häufige Berufung auf die herkömmliche Volksmeinung und den Durchschnittsverstand, ja zuweilen wahrhaft abergläubische und widersinnige Ansichten gegenüber, wie z.B. die, dass Raben durch die Kälte weiß, Rebhühner durch den vom Menschen herstreichenden Windhauch befruchtet werden könnten u.a.m. Aber im ganzen hat er auf diesem Gebiete mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln geleistet, was geleistet werden konnte, und kann namentlich als Begründer der vergleichenden Zoologie, Anatomie und Physiologie bezeichnet werden. Um so weniger können wir - was bei den älteren Philosophen, von denen so überaus dürftige sonstige Nachrichten vorliegen, eher gestattet war - auf einzelne Lehren eingehen, ja auch nur ein ausführliches Gesamtbild zu geben versuchen. Vielmehr kommt es uns nur darauf an, neben den allgemeinsten Umrissen das Philosophische daran hervorzuheben.

1. Physik. Zur Natur gehört alles, was den Grund der Bewegung und Ruhe, also der Veränderlichkeit seines Zustands in sich selbst, m. a. W. was Stoff an sich hat. Die Naturwissenschaft (Physik) ist die Lehre von der Bewegung (= Veränderung; s. § 30, Nr. 3). Die letztere ist von dreierlei Art: 1. die räumliche oder Ortsveränderung (phora), 2. die qualitative oder Stoffveränderung (alloiôsis), 3. die quantitative oder Zu- und Abnahme (auxêsis kai phthisis). Die erste läßt sich - in moderner Sprache - als die Grundlage der Mechanik, die zweite als die der Chemie, die dritte als die des organischen Geschehens bezeichnen.

Für Mechanik und Mathematik ist Aristoteles nicht interessiert, er kämpft gegen Pythagoras' Zahlenlehre und gegen Platos mathematische Konstruktion der Elemente, wie gegen Demokrits Atomismus, den er für unnötig sowohl wie unzulässig erklärt (s. K. Laßwitz, Gesch. der Atomistik I, 103-131). Seine Naturlehre fließt aus seinen metaphysischen Voraussetzungen, insbesondere seiner Teleologie. Die gesamte Natur ist eine große, von. dem ersten Beweger zweckvoll geordnete Einheit, ihr wahrer Grund nicht mechanische, sondern Zweck- oder Endursachen. So tiefsinnig durchdacht nun auch diese Naturanschauung sein mag - nur deshalb ist sie fast zwei Jahrtausende lang, trotz alles Wechsels der Völker und Religionen, die herrschende geblieben -, die ursächlich erklärende, mathematisch zu begründende Naturwissenschaft war damit unmöglich gemacht. Die Entwicklung der Physik als selbständige Wissenschaft (Galilei, Newton) hat sich daher im Kampfe gegen die Aristoteliker und ihre »substantiellen Formen« vollzogen. Aristoteles' Stärke und Lieblingsfeld ist denn auch nicht die theoretische Physik, worin er vielmehr gegen den von ihm sehr überlegen behandelten Demokrit weit zurücksteht, sondern die Naturbeschreibung, insbesondere die Welt des Organischen.

Die Welt besteht von Ewigkeit her. Nicht ihre Entstehung, sondern nur ihre Beschaffenheit ist zu erklären. Der vollkommenste Teil des Alls ist der vom gegensatzlosen Äther erfüllte Himmelsraum, dessen Kreisbewegung unmittelbar von der ihn raumlos umgebenden (?) Gottheit bewirkt wird; ihm gehört die Welt der von vernünftigen, beseelten Geistern gelenkten Fixsterne an. Niederer ist schon die Sphäre der Planeten, einschließlich Mond und Sonne, deren Einfluß auf die Erde der Keim der mittelalterlichen Astrologie geworden ist. Weit tiefer aber steht die »sublunarische« Welt des Vergänglichen und Unvollkommenen, unsere Erdkugel, gleichwohl das Zentrum des Alls. Ihre Bestandteile, die vier Elemente, werden nicht auf mathematisch-quantitative, sondern auf qualitative, dem Tastsinn sich erschließende Unterschiede zurückgeführt. Das Feuer ist das warm-trockene, die Luft das warm-flüssige, das Wasser das kalt-flüssige, die Erde das kalt-trockene Element. Sie gehen beständig ineinander über und vermischen sich miteinander.

2. Biologie. Aus den Elementen bilden sich zunächst die gleichartigen Teile des Organischen, z.B. Knochen und Fleisch der Tiere, aus diesen dann das Ungleichartige, z.B. Gesicht, Hände mit ihren Unterteilen, deren jeder seine bestimmte »Aufgabe oder Verrichtung« hat. Die niedersten Tiere entstehen durch Urzeugung aus Schlamm oder tierischen Aussonderungen, die höheren nur aus gleichartigen. Die blut- und wirbellosen Tiere stehen niedriger als die blutführenden Wirbeltiere. In der Stufenreihe des zu immer höherer Vollkommenheit fortschreitenden Organischen dient das Niedere dem Höheren, wie die Pflanzen den Tieren, die Tiere den Zwecken des Menschen. Das Weibliche ist unvollkommener als das Männliche, verhält sich wie das Stoffliche zu dem Formgebenden. Die Teleologie macht sich überall geltend; doch wirkt sie hier auf biologischem Gebiete unleugbar oft anregend und fruchtbar, so vor allem der bei Aristoteles sich zuerst festsetzende Begriff des Organismus. Daneben erscheinen freilich wieder Beispiele falscher, ästhetischer Teleologie, wie: der Mensch hat zwei Ohren der Symmetrie wegen, oder einseitig spiritualistische: der Leib ist nur der Seele wegen da und ihr angepaßt.

Damit sind wir bereits in der mit seiner Biologie eng verflochtenen, eigentlich nur einen Teil derselben bildenden


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