I. Bayle


Den Weg bereitet hat der Aufklärung in Frankreich und teilweise auch in Deutschland der Skeptiker und Polyhistor Pierre Bayle (1647-1706). Geboren als Sohn eines hugenottischen Geistlichen in der Grafschaft Foix, als Jüngling kurze Zeit (11/2 Jahre) durch jesuitischen Einfluß katholisch geworden, dann aber zur reformierten Kirche zurückgekehrt, studierte er in Genf Descartes, wurde 1675 Lehrer der Philosophie zu Sedan, 1681 in Rotterdam, wo er indes 1693 wegen seiner freisinnigen Anschauungen sein Lehramt verlor, und lebte von da bis an seinen Tod als Privatmann und Schriftsteller, der Mittelpunkt eines literarischen Kreises, zu dem Leibniz, Shaftesbury und andere bedeutende Denker gehörten. Sein Hauptwerk, das große Dictionnaire historique et critique (zuerst in 2 Bänden, Rotterdam 1695 u. 1697, am vollständigsten die Ausgabe von Des Maiseaux, 4 Bände, Rotterdam 1740), umfaßt in vier mächtigen Folianten fast den ganzen Wissensstoff seiner Zeit, wenigstens auf philosophisch - theologisch - philologischem Gebiete. Seine übrigen Schriften, darunter namentlich seine Gedanken gelegentlich der Erscheinung eines Kometen (der im Jahre 1680 viel Aberglauben und Furcht hervorrief), wurden in Haag 1725 ff. herausgegeben.

Bayles Eigenart tritt besonders in den ausführlichen kritischen Noten zu den Artikeln seines Dictionnaires hervor. Sie besteht, abgesehen von der Vielseitigkeit seines Wissens, vor allem in der scharfsinnigen Art seiner philologisch-historischen Kritik, die, mit unübertrefflicher Klarheit, Geduld und Beweglichkeit an das Größte wie an das Kleinste herangehend, selbst die verwickeltsten Probleme zu entwirren weiß. Dazu kommt sein lebendiger, schlagfertiger und geistreicher Stil. Seine Tendenz geht vor allem gegen den dogmatischen Verfolgungsgeist, den er an sich selbst genugsam erfahren hatte, wie überhaupt gegen allen Dogmatismus. Sein scharfer dialektischer Geist läßt ihn vor allen Dingen die Widersprüche aufspüren und hervorheben.

So geht er denn von dem cartesianischen Maßstab der »klaren und deutlichen« Erkenntnis, des »natürlichen Lichtes« aus, betont aber im Gegensatz zu Descartes aufs schärfste den Widerspruch zwischen Offenbarung (Religion) und Vernunft (Wissenschaft). Ohne den Offenbarungsglauben ausdrücklich anzugreifen oder zu tadeln - wie er denn überhaupt selten seine eigene Ansicht klar hervortreten läßt -, zeigt er an einigen Beispielen, dass derselbe nicht bloß über-, sondern auch widervernünftig sei. In diesem Sinne behandelte er auch das Problem der Vereinbarkeit des Bösen in der Welt mit der Güte Gottes und wollte das manichäische Doppelprinzip (I, § 56) gar nicht so ungereimt finden: was Leibnizens Widerspruch (§ 15) hervorrief. Bayles Prinzip reinlicher Scheidung führte ihn dann auf sittlichem Gebiete zu dem für die Aufklärungszeit charakteristisch gewordenen Grundsatz, dass die Sittlichkeit des Menschen unabhängig sei von seinen religiösen oder metaphysischen Meinungen, zu der Forderung der Trennung der Kirche vom Staat und unbedingter Toleranz. Bayle erklärt zum erstenmal in der Geschichte der christlichen Philosophie, dass auch ein Staat von Atheisten möglich sei, wenn auf strenge Strafen und Ehrbegriffe gehalten wird. Übrigens werde die Zahl derer, die wirklich nach den Lehren des Evangeliums leben, immer sehr klein sein, wie denn der tiefste Grund der Bayleschen Skepsis ein entschiedener Pessimismus ist.

Auf dem Gebiete der Philosophie im engeren Sinne Positives von Bedeutung zu leisten, hat Bayle sowohl seine skeptische Natur wie sein Mangel an naturwissenschaftlichem Interesse gehindert. Er hat zwar das Verdienst, in seinen Artikeln Pyrrhon und Zenon die scharfsinnigen Untersuchungen der antiken Skeptiker bezw. Eleaten über Raum, Zeit und Bewegung ans Licht gezogen und gewürdigt zu haben, aber er bezweifelt nicht bloß die Wirklichkeit der Körperwelt, sondern auch die Gewißheit des Selbstbewußtseins, ja sogar die Sicherheit der mathematischen Axiome. Von den zeitgenössischen Philosophen bekämpft er am meisten Spinoza wegen seines Pantheismus und Determinismus, obwohl er selbst die Willensfreiheit des Menschen ebenfalls für unbegreiflich und unbeweisbar hält.

Seine Hauptbedeutung liegt in dem Aussprechen jener allgemeinen Aufklärungsgedanken, die dem Bedürfnis der Zeit entgegenkamen und sich rasch in Frankreich und über die Grenzen desselben hinaus verbreiteten. Nicht bloß auf Hume, sondern auch auf Leibniz ist Bayle nachweisbar von Einfluß gewesen; kein anderer wie Gottsched hat später (1741-44) sein Dictionnaire ins Deutsche übersetzt. Und zwar wirkte, wenigstens in seinem Vaterlande, die kritisch -negative Seite seines Denkens am stärksten. Die weitere Entwicklung der Aufklärung zog aus seinem Satze, dass die kirchlichen Lehren mit der Vernunft unvereinbar seien, den Schluß, dass nicht die letztere, sondern die ersteren zu verwerfen oder doch entsprechend zu rationalisieren seien.

Zu reicherer Wirksamkeit sollten diese Gedanken erst ein Menschenalter später kommen, nachdem der ungeheure geistige Druck der nach außen so glänzenden Periode Ludwigs XIV. gewichen war. Schon unter der Regentschaft (1715-23) zeigen sich die Spuren freieren geistigen Lebens. So arg die Sittenlosigkeit des Hofes und des Adels war, Handel und Industrie und mit ihnen die Bourgeoisie, der »dritte Stand«, kamen empor, während allerdings die Bauern und Arbeiter noch im tiefsten Elend schmachteten, zu dessen Linderung vergeblich wohlmeinende Nationalökonomen, wie Vauban und Boisguillebert, ihre Vorschläge machten.

Dazu kam dann der Einfluß der englischen Ideen. Mehrere Jahre, bevor Hume nach Frankreich ging, um dort in der Stille seine Gedanken ausreifen zu lassen, hatten zwei junge Franzosen England besucht, um sich mitten in die dortige Bewegung der Geister zu stürzen und von da die neuen Ideen über Religion und Kirche, Philosophie und Staat in die Heimat mitzunehmen, deren geistiges Leben damals in der Hauptsache noch das Gepräge der Ausläufer des Cartesianismus einer-, des Katholizismus (Jansenisten, Jesuiten) anderseits trug. Es waren Montesquieu und Voltaire. Friedrich der Große schreibt 1767 an den letzteren: »Bayle hat den Kampf begonnen. Eine Anzahl Engländer folgte ihm. Ihr seid berufen, den Kampf zu vollenden!« Folgen wir jetzt dessen weiterer Entwicklung.

 

Literatur: L. Feuerbach, P. Bayle. Ansbach 1838. Bolin, P. Bayle. Stuttgart 1905.


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