§ 1. Descartes' Leben und Schriften.


a) Leben. Für die philosophische Entwicklung des Descartes ist auch sein Lebensgang wichtig, dessen Hauptzüge er selbst in seinem Discours de la méthode dargestellt hat, und der dann von seinen Landsleuten oft (bereits 1691 von Baillet, in nicht weniger als drei »Eloges« im Jahre 1765), in deutscher Sprache am anziehendsten von Kuno Fischer geschildert worden ist.

René Descartes, geboren 1596, entstammte einem alten Adelsgeschlecht der Touraine. In seinem zarten und schmächtigen Körper lebte ein reger Geist.

Bereits auf der berühmten Jesuitenschule zu La Flèche, wo er 1604-12 seine Schulbildung erhielt, glänzte er durch seine Leistungen. Aber die »Philosophie«, die ihm dort geboten wurde, schien ihm nur ein »Mittel, in wahrscheinlicher Weise über alle Dinge zu reden und sich von den weniger Gelehrten bewundern zu lassen«. Angezogen und befriedigt fühlte sich sein nach Sicherheit der Erkenntnis dürstender Geist nur von der strengen Methode der Mathematik. Kurze Zeit (1612/13) warf er sich, übersättigt von der toten Buchgelehrsamkeit, in den Strudel des Pariser Gesellschaftslebens, kehrte jedoch bald wieder zu seinen Studien zurück und lebte 1614-16 in völliger Zurückgezogenheit, um dann von neuem in die große Welt hineingerissen zu werden. 1617 nimmt er im holländischen, 1619 im bayrischen Heere unter Tilly Kriegsdienste, kämpft 1620 bei Prag gegen den Winterkönig, dessen Tochter Elisabeth später seine Schülerin wird, verläßt sodann den Kriegsdienst und macht mehrjährige Reisen durch einen großen Teil Europas. 1624 führt er eine Wallfahrt nach Loretto aus, die er fünf Jahre vorher der Jungfrau Maria gelobt hatte, wenn ihm seine philosophischen Zweifel gelöst würden, und lebt 1625-28 wieder in Paris, wo es ihm, wohl als einzigem unter den bedeutenden Franzosen, nicht gefällt. Von nun an widmet er sich ganz der Wissenschaft. Die nächsten zwei Jahrzehnte (1629-49) bringt er - kurze Reisen nach Frankreich, England und Dänemark abgerechnet - in Holland zu, dem Lande, welches damals allein, wenn auch in beschränktem Maße, Denk- und Religionsfreiheit gewährte. Von dort aus veröffentlicht er 1637-44 seine wichtigsten Schriften. Gemäß seinem Wahlspruche: Bene vixit qui bene latuit, hat er in dieser Zeit an dreizehn verschiedenen Orten seinen Wohnsitz aufgeschlagen, mit befreundeten Gelehrten einen ausgedehnten schriftlichen Verkehr pflegend, der namentlich durch den gelehrten Pater Mersenne (I, 352) vermittelt wurde. Trotz aller Vorsicht entging er den Angriffen katholischer und protestantischer Orthodoxer nicht (seine Lehre wurde z.B. zu Utrecht als atheistisch verboten), fand aber reichliche Entschädigung in der wachsenden Ausbreitung seiner Philosophie. 1649 siedelte er, den dringenden Bitten der gelehrten Königin Christine von Schweden folgend, nach Stockholm über, konnte aber das rauhe Klima und die veränderte Lebensweise im »Lande der Bären, des Eises und der Felsen« nicht vertragen und starb bereits am 11. Februar 1650.

b) Schriften. Am 10. November 1619, während er zu Neuburg an der Donau in den Winterquartieren lag, verspürte der junge Descartes in sich den Durchbruch eines neuen methodischen Grundgedankens: nur das anzunehmen, was »klar und deutlich« gedacht werde, zur Einfachheit zurückzukehren, ganz von vorne anzufangen. Der Durchführung dieser seiner »analytischen Methode« in Mathematik, Philosophie und Naturlehre galt fortan sein Leben, insbesondere von seiner Übersiedelung nach Holland an. Seine Forschungsergebnisse veröffentlichte er jedoch zunächst noch nicht, weil er »Ruhe über alles liebte« und als Katholik die Inquisition fürchten mußte, die soeben ihre Macht an Galilei bewiesen hatte. Und als ihre Veröffentlichung erfolgte, geschah dies nicht ohne allerlei Verbeugungen vor der alleinseligmachenden Kirche; »er streute«, wie sein erster Biograph Baillet sagt, »der Inquisition Sand in die Augen«. Erst 1637 gab er auf Drängen seiner Freunde anonym seine Essais philosophiques zu Leyden heraus, enthaltend: 1. den Discours de la méthode, die erkenntnistheoretische Grundlegung; sodann dessen Anwendungen: 2. die Dioptrik, 3. die Meteorologie und 4. seine Begründung der analytischen Geometrie. (Sie wurden erst 1644 unter seinem Namen als Specimina philosophica in der lateinischen Übersetzung eines Freundes zu Amsterdam herausgegeben, die Geometrie erst 1649.) Eine vollständige Darstellung seiner Philosophie gaben 1641 die - der orthodoxen Pariser Sorbonne gewidmeten - Meditationes de prima philosophia und 1644 die Principia philosophiae. Den ersteren waren als Beilage die brieflichen Einwürfe (obiectiones) von philosophischen Gegnern, darunter Gassendi und Hobbes, und deren Beantwortungen (responsiones) beigegeben. Die letzte von Descartes selbst (1649) veröffentlichte Schrift war die bereits 1646 für seine gelehrte Freundin, die Prinzessin Elisabeth aus dem philosophiefreundlichen Hause Pfalz,*) niedergeschriebene Abhandlung über die Gemütsbewegungen (Traité des passions de l'âme). Erst geraume Zeit nach seinem Tode (1677) wurde der von ihm aus Furcht vor dem Schicksale Galileis bei seinen Lebzeiten zurückgehaltene, u. a. die kopernikanische Theorie lehrende Traktat Le monde herausgegeben, noch später (1701) die wichtigen, leider unvollendeten Regulae ad directionem ingenii sowie die Inquisitio veritatis per lumen naturale. Manches vorher Ungedruckte hat außerdem Foucher de Careil 1859 und 1868 veröffentlicht.

Descartes' Schriften und seine zahlreichen (beinahe 600) Briefe wurden seit ihrem ersten Erscheinen häufig, in Einzel- wie später in Gesamtausgaben, französisch und lateinisch, herausgegeben. Die letzte französische Gesamtausgabe von V. Cousin (1824-26) ist jetzt überholt durch die vortreffliche neue der Pariser Akademie von Adam und Tannery (12 Quartbände, 1897-1911). Eine modernen Anforderungen entsprechende Neuausgabe aller wichtigeren Schriften in neuer deutscher Übersetzung hat A. Buchenau in der Philos. Bibl. in vier Bänden veröffentlicht; er hat auch die Meditationes und die Regulae nach der Originalausgabe von 1710 im lateinischen Urtext neu ediert. Seiner Ausgabe der Meditationes (Ph. B. 27, II) ist ein ausführlicher Kommentar beigegeben. Die ziemlich zahlreiche Literatur über Descartes s. bei Ueberweg § 12. Einzelne besonders wertvolle Schriften werden unten noch Erwähnung finden. Dem Andenken an ihn hat 300 Jahre nach seiner Geburt die Revue de Métaphysique et de Morale eine besondere Nummer mit wertvollen Beiträgen gewidmet (Bd. IV, Juli 1896).

Wir trennen in unserer Darstellung die erkenntniskritische Grundlegung, die namentlich in den Regulae und dem Discours de la méthode enthalten ist, von dem hauptsächlich in den Meditationes und Principia errichteten metaphysischen System.

 

Literatur: Kuno Fischer, Descartes' Leben, Werke u. Lehre, 4. Aufl. 1897 (G. d. n. Ph., Bd. I). A. Hoffmann, René Descartes (Klass. d. Philos. XVIII) 1905. E. Jungmann, R. Descartes, eine Einführung in seine Werke, 1907. La vie de Descartes in Bd. XII der Pariser Akademie-Ausgabe (s. u.).

 

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*) Ihr Bruder Karl Ludwig wollte Spinoza nach Heidelberg ziehen, ihre Schwester Sophie war die Freundin von Leibniz.


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