§ 14. Die sokratische Methode der Begriffsbestimmung.


Als den Inbegriff seiner Weisheit erklärte Sokrates (nach Platons Apologie) seine Einsicht, dass er nichts wisse, während andere sich einbildeten, etwas zu wissen. Das Wesentliche für ihn und zugleich das Neue in der Geschichte der Philosophie ist also, dass er nicht zu irgendwelchem Wissensinhalt drängt, sondern sich und andere zur Selbstbesinnung treibt, zur Prüfung alles vermeintlichen Wissens auf sein Begründetsein. Er will nicht, gleich den Sophisten, seinen Schülern fertige Schablonen einhämmern, sondern sie selbst die Wahrheit finden lassen. Noch stärker als die Sophisten wendet er sich von der Naturphilosophie, ja sogar von der Naturbetrachtung ab. Die Gegenden und die Bäume, sagte er, können mich nichts lehren. Wer den Menschen studiert, hat zum Naturerkennen keine Zeit. Seine Forschung gilt dem Menschen mit seinem gesamten Denken und Wollen. Worin aber besteht das Wesen des Menschen? Worin das Wesen eines Dinges überhaupt? Das waren die Fragen, welche Sokrates sich stellte und stellen mußte, weil ihn, im Gegensatze zu den Sophisten, nach einer allgemeingültigen Wahrheit verlangte. In diesem Ringen nach Wahrheit, nach wahrem Wissen besteht seine ganze Philosophie, ein Leben ohne das erscheint ihm nicht lebenswert. Nur eins erscheint ihm als wahrhaft gut: das Wissen (hê epistêmê), die Selbsterkennung. Daher sein Lieblingsspruch das Delphische: »Erkenne dich selbst!«

Indem nun Sokrates untersucht, »was ein jedes Ding sei« (ti hekaston eiê), findet er das Ziel und die Grundlage aller wissenschaftlichen Arbeit in dem Begriff (dem »Was ist?« oder ti estin;) des Dinges, seiner Definition. Nicht, als ob er bereits die Logik wissenschaftlich begründet und in ein System gebracht hätte - das tut erst Aristoteles -, aber er handhabt sie mit einer Art natürlicher Genialität. Und wie gewinnt er den sicheren Begriff einer Sache? Auf dem Wege des induktiven Verfahrens. »Vom Gangbarsten und Zweifellosesten ging Sokrates in seinen Untersuchungen jedesmal aus, indem er dies als den sichersten Weg erachtete,« so berichtet Xenophon, mit Plato hierin aufs genaueste übereinstimmend. Und Aristoteles bezeichnet als die »zwei Dinge, die man dem Sokrates mit Recht zusprechen, darfü: »die induktiven Reden und die Feststellung allgemeiner Begriffe« In dieser Aufsuchung der Begriffe hat er eine ihm eigentümliche, die sogenannte sokratische Methode ausgebildet.

Sokrates war weder ein Bücherschreiber noch ein einsamer Grübler noch ein dozierender Professor. Er geht auf den Markt und die Straßen. Es war ihm Bedürfnis, die Wahrheit im Zwiegespräch mit anderen zu finden. Wo sich ihm nur die geringste Aussicht auf Erfolg bietet, knüpft er es an. Dabei ging er von dem, was dem Betreffenden am nächsten lag, seiner Arbeit oder Beschäftigung, aus und bat ihn um Aufschluß über Wesen und Zweck seiner Tätigkeit. Dann aber zeigte er dem also Befragten durch geschickte Kreuz- und Querfragen, dass er im Grunde nicht wisse, was er zu wissen vorgegeben habe, und deshalb noch weniger wisse als er (Sokrates selbst), der doch wenigstens von sich gewußt habe, dass er das, wonach er gefragt, in der Tat nicht wisse. Das ist die sogenannte Ironie des Sokrates.

Wer sich aber durch die beschämende Einsicht in die eigene Unwissenheit nicht von der weiteren Unterhaltung abschrecken ließ, den führte er in ernsthaftem Gespräche, indem er die in dem Mitunterredner noch schlummernden Gedanken aus ihm herauszulocken suchte, Schritt für Schritt weiter, durch Vergleichung der Tatsachen, bis zum festen Ausdruck des Gesuchten im Begriff. Das nannte er, unter Anspielung auf den Beruf seiner Mutter, seine Maieutik, d. i. Entbindungskunst. Die Wahrheit soll aus der eigenen Seele des anderen heraus geboren werden.

So ist Sokrates' Philosophieren ein Bestimmen der Begriffe. Das wahre Wissen beruht auf dem sicheren Begriff, und dieser bewährt sich in der allseitigen Prüfung des epagogischen (induktiven, »hinführenden«) Verfahrens. Ihr Inhalt, die Dinge interessieren ihn zunächst noch gar nicht, sondern die Problemstellung. Seine Philosophie besteht - das ist das Bedeutsame gegenüber der gesamten Vorsokratik - in seiner Methode. Das Denken hat sich ihm und in ihm als kritisches Denken, als Kritik entdeckt.

Das Anwendungsfeld aber dieser methodischen Begriffsbestimmung ist vor allem die Ethik; seine Untersuchung ist auf die »Tugend« gerichtet.


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