3. Verhältnis der orientalischen Völker zur Philosophie.

 

3. Weit mehr spekulativen Gehalt als das chinesische weist das indische Denken auf, dem man in Europa seit den letzten sechs Jahrzehnten ein immer tiefer eindringendes Studium gewidmet hat, und das von einzelnen dieser Forscher, wie den Deutschen Max Müller (in Oxford •) und Paul Deussen (in Kiel), den höchsten Erzeugnissen abendländischer Philosophie an die Seite gestellt wird. Wir müssen uns begnügen, die Hauptsache hervorzuheben. Den Mittelpunkt des gesamten indischen Philosophierens, in seinen verschiedenen Systemen, bildet die Lehre vom Brahman, dem alle Welten hervorbringenden, tragenden und in sich zurückschlingenden, über alle Endlichkeit erhabenen All-Einen, und die vom Atman, dem eigenen Selbst oder der menschlichen Seele. Die Einheit beider, dadurch dass die Seele erkennt; Tat twam asi (= das bist du), verkünden in schwungvoller Dichtersprache die altindischen Upanishads (d. i. Geheimlehre des Veda oder »heiligen Wissens«)3. Indem unsere Seele in diesem Gedanken Ruhe findet, stößt sie die ganze Sinnenwelt als wertlos und leidvoll von sich. Aber da der Mensch sich doch nun einmal seiner eigenen Beschränktheit wie auch der Vielheit der Sinnendinge beständig bewußt bleibt, so mußte in der Fortentwicklung des indischen Denkens ein innerer Widerspruch entstehen. Ihn suchte die Sankhya-Philosophie zu lösen, indem sie die Wirklichkeit der Welt und der Einzelseele bejahte, sowie den Gegensatz von Natur und Geist zugab. Dem Vedanta- System dagegen ist, ähnlich wie später den griechischen Eleaten (s. § 6), Welt und Einzelseele bloßer Schein und Zaubertrug (der »Schleier der Maya«). Wahrheit liegt nur im Brahman. Denn »nur durch die Offenbarung kann man dies überliefe höchste Brahman erkennen, nicht durch eigenes Nachdenken« : also theologische Spekulation, nicht Philosophie! Nur für das niedere Wissen existiert eine Vielheit von Seelen, die, durch ihre eigene Schuld in die Welt der Körperlichkeit getreten, in dieser mancherlei Formen durchwandeln. Für das höhere Wissen gibt es nur das eine, ungeteilte Brahman, das zugleich Sein und Denken und mit meinem eigenen Selbst identisch ist. Andere Systeme betonen mehr logische oder naturphilosophische Gesichtspunkte. Das von Carvaka predigt sogar krassen Materialismus, Verachtung aller Religion als Priestertrugs und, als höchstes Ziel des Menschen, den sinnlichen Genuß; freilich ist die Carvakalehre nicht spezifisch indisch mehr zu nennen. - Für eingehendere Studien verweisen wir auf das zu Anfang des § genannte dreibändige Werk Deussens, ferner auf Deussen, Das System des Vedanta, 2. Aufl., 1906, außerdem auf die Werke von: v. Schröder, Indiens Literatur und Kultur in historischer Entwicklung, 1887, sowie Max Müller (in deutscher Übersetzung): Physische Religion, Leipzig 1892; Anthropologische Religion, 1894, und besonders: Theosophie oder psychologische Religion, 1895.

Der gleichfalls auf indischem Boden erwachsene, aber später durch Verfolgungen von dort (nach Hinterindien, China, Japan, Tibet, Ceylon) verdrängte Buddhismus teilt mit der Spekulation der Brahminen den pessimistisch-mystischen Grundzug, ist aber wesentlich religiös, praktische Heilslehre. Die von hohem sittlichem Idealismus erfüllte, aber auch zu passivem Quietismus, Unterdrückung auch der gesunden Sinnlichkeit und mönchischer Weltflucht neigende Lehre des indischen Königssohnes dringt neuerdings sogar in Europa vor. Es wurde sogar eine deutsche »Monatsschrift für den Buddhismus«, Der Buddhist, »Publikationsorgan des buddhistischen Missionsvereins« gegründet und 1918 eine Neubuddhistische Zeitschrift (Berlin-Wilmersdorf). Übrigens scheint sich in neuester Zeit bis zu einem gewissen Grade eine Versöhnung des altindischen mit dem europäischen Geiste anzubahnen in der Gestalt des bengalischen Denkers und Dichters Rabindranath Tagore, der neben dem Einssein der Einzelseele mit der Gottheit oder dem All doch auch das Eigenrecht der Persönlichkeit stark hervorhebt, die von dem Quietismus der Beschauung zur Selbstverwirklichung im Handeln führt (vgl. P. Natorp, Die Weltalter des Geistes, 1918, S. 39-51).

 

Literaturhinweise: Der beste deutsche Kenner der indischen Philosophie, Paul Deusseu, schildert in den drei ersten Bänden seiner Allgemeinen Geschichte der Philosophie (S. 7 f.) die Philosophie der Inder mit eindringender Sachkenntnis; der 3. Band (1908) gibt auch einen knappen Überblick über die buddhistische und chinesisch-japanische Philosophie. Vgl. ferner in dem § 2 erwähnten Sammelwerk Allgemeine Geschichte der Philosophie die Abschnitte von H. Oldenberg (Indien), W. Grube (China), Inouye (Japan). Ferner H. Oldenberg, Buddha, sein Leben, seine Lehre und seine Gemeinde, 5. Aufl. 1906. Ein großes Quellen-Sammelwerk sind die von M. Müller herausgegebenen »Heiligen Bücher des Ostens« (Sacred Books of the East, Oxford, 1879-1904 in 50 Lexikonbänden). - Der Einführung in die chinesische Philosophie dient die Sammlung: ›Die Religion und Philosophie Chinas‹, übersetzt und eingeleitet von Richard Wilhelm, (bis 1914 deutschem Pfarrer in Tsingtau), von denen bis jetzt Kungfutses »Gespräche« und drei taoistische (s. S. 12), bei Diederichs (Jena) erschienen sind.

 


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