b. Die neuen Götter des klassischen Ideals


Welches sind nun, ergeht die weitere Frage, die Produkte dieser klassischen Weise künstlerischer Tätigkeit, welcher Art sind die neuen Götter der griechischen Kunst?

α) Die allgemeinste und zugleich vollendeteste Vorstellung von ihrer Natur gibt uns ihre konzentrierte Individualität, insofern dieselbe aus der Mannigfaltigkeit von Beiwesenheiten, einzelnen Handlungen und Begebenheiten in den einen Brennpunkt ihrer einfachen Einheit mit sich zusammengefaßt ist.

αα) Was uns aus diesen Göttern anspricht, ist zunächst die geistige substantielle Individualität, welche, aus dem bunten Schein des Partikularen der Not und vielzweckigen Unruhe des Endlichen in sich zurückgenommen, auf ihrer eigenen Allgemeinheit wie auf einer ewigen, klaren Grundlage sicher beruht. Nur dadurch erscheinen die Götter als die unvergänglichen Mächte, deren ungetrübtes Walten nicht am Besonderen in der Verwicklung mit Anderem und Äußerlichem, sondern an ihrer eigenen Unwandelbarkeit und Gediegenheit zur Anschauung kommt.

ββ) Umgekehrt aber sind sie nicht etwa die bloße Abstraktion geistiger Allgemeinheiten und dadurch sogenannte allgemeine Ideale, sondern insofern sie Individuen sind, erscheinen sie als ein Ideal, das an sich selbst Dasein und deswegen Bestimmtheit, d. h. als Geist Charakter hat. Ohne Charakter tritt keine Individualität hervor. Nach dieser Seite hin liegt, wie bereits oben ist ausgeführt worden, auch den geistigen Göttern eine bestimmte Naturmacht zugrunde, mit welcher sich eine bestimmte sittliche Substanz verschmilzt und jedem Gott einen abgegrenzten Kreis seiner ausschließlicheren Wirksamkeit anweist. Die mannigfaltigen Seiten und Züge, welche durch diese Besonderheit hereinkommen, machen, als zur einfachen Einheit mit sich reduziert, die Charaktere der Götter aus.

γγ) Im wahren Ideal jedoch darf sich diese Bestimmtheit ebensowenig zur scharfen Beschränkung auf die Einseitigkeit des Charakters verendlichen, sondern muß gleichmäßig wieder zur Allgemeinheit des Göttlichen zurückgenommen erscheinen. So ist denn jeder Gott, indem er die Bestimmtheit als göttliche und damit als allgemeine Individualität in sich trägt, teils bestimmter Charakter, teils alles in allem, und schwebt in der vollen einigen Mitte zwischen bloßer Allgemeinheit und ebenso abstrakter Besonderheit. Dies gibt dem echten Ideal des Klassischen die unendliche Sicherheit und Ruhe, die kummerlose Seligkeit und ungehemmte Freiheit.

β) Als Schönheit der klassischen Kunst nun ferner ist der an sich selbst bestimmte göttliche Charakter nicht nur geistig, sondern ebensosehr äußerlich in ihrer Leiblichkeit erscheinende, dem Auge wie dem Geiste sichtbare Gestalt.

αα) Diese Schönheit, da sie nicht nur das Natürliche und Tierische in seiner geistigen Personifikation, sondern das Geistige selber in dessen adäquatem Dasein zu ihrem Inhalte hat, darf nur in ihrem Beiwesen Symbolisches und auf das nur Natürliche Bezügliches aufnehmen; ihr eigentlicher Ausdruck ist die dem Geiste und nur dem Geiste eigentümliche äußere Gestalt, insoweit das Innere in ihr sich selber zur Existenz bringt und sich vollendet durch sie hindurchergießt.

ββ) Auf der anderen Seite muß die klassische Schönheit nicht den Ausdruck der Erhabenheit gewähren. Denn das abstrakt Allgemeine allein, das sich in keiner Bestimmtheit mit sich selber zusammenschließt, sondern nur negativ gegen das Besondere überhaupt und somit auch gegen jede Verleiblichung gekehrt ist, gibt den Anblick des Erhabenen. Die klassische Schönheit aber führt die geistige Individualität mitten in ihr zugleich natürliches Dasein hinein und expliziert das Innere nur im Elemente äußerer Erscheinung.

γγ) Deshalb muß jedoch die Außengestalt sich ebensosehr wie das Geistige, das in ihr sich Dasein verschafft, von jeder Zufälligkeit äußerer Bestimmtheit, von jeder Naturabhängigkeit und Krankhaftigkeit befreien, aller Endlichkeit, allem Vorübergehenden, aller Geschäftigkeit für bloß Sinnliches entnommen sein und ihre mit dem bestimmten geistigen Charakter des Gottes sich verschwisternde Bestimmtheit zum freien Einklang mit den allgemeinen Formen der menschlichen Gestalt reinigen und erheben. Die makellose Äußerlichkeit allein, in der jeder Zug der Schwäche und Relativität verwischt und jeder Flecken willkürlicher Parti-kularität ausgelöscht ist, entspricht dem geistigen Innern, welches in sie sich versenken und in ihr leiblich werden soll.

γ) Da nun aber die Götter aus ihrer Bestimmtheit des Charakters zugleich in die Allgemeinheit zurückgebogen sind, so hat sich auch in ihrer Erscheinung zugleich das Selbstsein des Geistes als das Beruhen in sich und als die Sicherheit seiner in seinem Äußeren darzustellen.

aa) Darum sehen wir in der konkreten Individualität der Götter bei dem eigentlich klassischen Ideal ebensosehr diesen Adel und diese Hoheit des Geistes, in welcher sich, trotz seinem gänzlichen Hineingehen in die leibliche und sinnliche Gestalt, das Entferntsein von aller Bedürftigkeit des Endlichen kundgibt. Das reine Insichsein und die abstrakte Befreiung von jeder Art der Bestimmtheit würde zur Erhabenheit führen; indem das klassische Ideal aber zum Dasein, das nur das seinige, das Dasein des Geistes selber ist, heraustritt, so zeigt sich auch die Erhabenheit desselben in die Schönheit verschmolzen und in sie gleichsam unmittelbar übergegangen. Dies macht für die Göttergestalten den Ausdruck der Hoheit, der klassisch schönen Erhabenheit notwendig. Ein ewiger Ernst, eine unwandelbare Ruhe thront auf der Stirn der Götter und ist ausgegossen über ihre ganze Gestalt.

ββ) In ihrer Schönheit erscheinen sie deshalb über die eigene Leiblichkeit erhoben, und es entsteht dadurch ein Widerstreit zwischen ihrer seligen Hoheit, die ein geistiges Insichsein, und ihrer Schönheit, die äußerlich und leiblich ist. Der Geist erscheint ganz in seine Außengestalt versenkt und doch zugleich aus ihr heraus nur in sich versunken. Es ist wie das Wandeln eines unsterblichen Gottes unter sterblichen Menschen.

In dieser Beziehung bringen die griechischen Götter einen Eindruck hervor, bei aller Verschiedenheit ähnlich dem, welchen Goethes Büste von Rauch, als ich sie das erstemal sah, auf mich machte. Sie haben sie gleichfalls gesehen, diese hohe Stirn, diese gewaltige, herrschende Nase, das freie Auge, das runde Kinn, die gesprächigen, vielgebildeten Lippen, die geistreiche Stellung des Kopfes, auf die Seite und etwas in die Höhe den Blick weggewendet; und zugleich die ganze Fülle der sinnenden, freundlichen Menschlichkeit, dabei diese ausgearbeiteten Muskeln der Stirn, der Mienen, der Empfindungen, Leidenschaften und in aller Lebendigkeit die Ruhe, Stille, Hoheit im Alter; und nun daneben das Welke der Lippen, die in den zahnlosen Mund zurückfallen, das Schlaffe des Halses, der Wangen, wodurch der Turm der Nase noch größer, die Mauer der Stirn noch höher heraustritt. - Die Gewalt dieser festen Gestalt, die vornehmlich auf das Unwandelbare reduziert ist, erscheint in ihrer losen, hängenden Umgebung wie der erhabene Kopf und die Gestalt der Orientalen in ihrem weiten Turban, aber schlotterndem Oberkleid und schleppenden Pantoffeln; - es ist der feste, gewaltige, zeitlose Geist, der, in der Maske der umherhängenden Sterblichkeit, diese Hülle herabfallen zu lassen im Begriff steht und sie nur noch lose um sich frei herumschlendern läßt.

In der ähnlichen Weise erscheinen auch die Götter von selten dieser hohen Freiheit und geistigen Ruhe über ihre Leiblichkeit erhoben, so daß sie ihre Gestalt, ihre Glieder bei aller Schönheit und Vollendung gleichsam als einen überflüssigen Anhang empfinden. Und dennoch ist die ganze Gestalt lebendig beseelt, identisch mit dem geistigen Sein, trennungslos, ohne jenes Auseinander des in sich Festen und der weicheren Teile, der Geist nicht dem Leib entgehend und entstiegen, sondern beide ein gediegenes Ganzes, aus welchem das Insichsein des Geistes nur in der wunderbaren Sicherheit seiner selbst still herausblickt.

γγ) Indem nun aber jener angedeutete Widerstreit vorhanden ist, ohne jedoch als Unterschied und Trennung der inneren Geistigkeit und ihres Äußeren herauszutreten, so ist das Negative, das darin liegt, eben deswegen diesem ungetrennten Ganzen immanent und an ihm selber ausgedrückt. Dies ist innerhalb der geistigen Hoheit der Hauch und Duft der Trauer, den geistreiche Männer in den Götterbildern der Alten selbst bei der bis zur Lieblichkeit vollendeten Schönheit empfunden haben. Die Ruhe göttlicher Heiterkeit darf sich nicht zu Freude, Vergnügen, Zufriedenheit besondern, und der Frieden der Ewigkeit muß nicht zum Lächeln des Selbstgenügens und gemütlichen Behagens herunterkommen. Zufriedenheit ist das Gefühl der Übereinstimmung unserer einzelnen Subjektivität mit dem Zustande unseres bestimmten, uns gegebenen oder durch uns hervorgebrachten Zustandes. Napoleon z. B. hat nie gründlicher seine Zufriedenheit ausgedrückt, als wenn ihm etwas gelungen war, womit alle Welt sich unzufrieden bezeigte. Denn Zufriedenheit ist nur die Billigung meines eigenen Seins, Tuns und Treibens, und das Extrem derselben gibt sich in jener Philisterempfindung zu erkennen, zu der es jeder fertige Mensch bringen muß. Diese Empfindung und ihr Ausdruck ist aber nicht der Ausdruck der plastischen ewigen Götter. Die freie, vollendete Schönheit vermag sich nicht in der Zustimmung zu einem bestimmten endlichen Dasein zu genügen, sondern ihre Individualität, nach selten des Geistes wie der Gestalt, ob-schon sie charakteristisch und in sich bestimmt ist, geht doch nur mit sich als zugleich freier Allgemeinheit und in sich ruhender Geistigkeit zusammen. - Diese Allgemeinheit ist es, welche man bei den griechischen Göttern auch als Kälte hat ansprechen wollen. Kalt jedoch sind sie nur für die moderne Innigkeit im Endlichen; für sich selbst betrachtet, haben sie Wärme und Leben; der selige Frieden, der sich in ihrer Leiblichkeit abspiegelt, ist wesentlich ein Abstrahieren von Besonderem, ein Gleichgültigsein gegen Vergängliches, ein Aufgeben des Äußerlichen, ein nicht kummervolles und peinliches - doch ein Entsagen dem Irdischen und Flüchtigen, wie die geistige Heiterkeit tief über Tod, Grab, Verlust, Zeitlichkeit hinwegblickt und, eben weil sie tief ist, dies Negative in sich selber enthält. Je mehr nun aber an den Göttergestalten der Ernst und die geistige Freiheit heraustritt, desto mehr läßt sich ein Kontrast dieser Hoheit mit der Bestimmtheit und Körperlichkeit empfinden. Die seligen Götter trauern gleichsam über ihre Seligkeit oder Leiblichkeit; man liest in ihrer Gestaltung das Schicksal, das ihnen bevorsteht und dessen Entwicklung, als wirkliches Hervortreten jenes Widerspruchs der Hoheit und Besonderheit, der Geistigkeit und des sinnlichen Daseins, die klassische Kunst selber ihrem Untergange entgegenführt.


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