a. Die Orakel


Was nun erstens die Orakel angeht, so brauchen wir ihrer an dieser Stelle keine breite Erwähnung zu tun; der wesentliche Punkt, auf den es ankommt, beruht nur darin, daß in der klassischen Kunst nicht mehr die Naturerscheinungen als solche verehrt werden, wie die Parsen z. B. Naphthagegenden oder das Feuer anbeten oder wie bei den Ägyptern die Götter unerforschliche, geheimnisvolle, stumme Rätsel bleiben, sondern daß die Götter, als selber sich Wissende und Wollende, dem Menschen durch Naturerscheinungen ihre Weisheit kundgeben. So fragten die alten Hellenen (Herodot, II, 52) bei dem Orakel zu Dodona an, ob sie die Namen der Götter, die von den Barbaren gekommen, annehmen sollten, und das Orakel sagte: gebraucht sie.

α) Die Zeichen, durch welche die Götter sich offenbarten, waren größtenteils ganz einfach: zu Dodona das Rauschen und Flüstern der heiligen Eiche, das Murmeln des Quells, das Getön des erzenen Gefäßes, das der Wind zum Klingen brachte. Ebenso rauschte zu Delos der Lorbeer, und zu Delphi war gleichfalls der Wind am ehernen Dreifuß ein entscheidendes Moment. Außer solchen unmittelbaren Naturklängen aber wird auch der Mensch selber der Ausspruch des Orakels, insofern er aus der wachen Besonnenheit des Verstandes zu einem Naturzustande der Begeisterung ebensosehr betäubt als aufgereizt ist; wie z. B. die Pythia zu Delphi, durch Dämpfe betäubt, Orakelworte aussprach oder in der Höhle des Trophonios der das Orakel Befragende Gesichte hatte, aus deren Deutung ihm die Antwort erteilt wurde.

β) Zu den äußeren Zeichen nun aber kommt noch eine zweite Seite hinzu. Denn in den Orakeln ist der Gott zwar als der Wissende angenommen und dem Apollo daher, dem wissenden Gott, das vernehmlichste Orakel geweiht; die Form jedoch, in welcher er seinen Willen zur Kunde bringt, bleibt das ganz unbestimmt Natürliche, eine Naturstimme oder zusammenhangloses Tönen von Worten. In dieser Undeutlichkeit der Gestalt wird nun auch der geistige Inhalt selber dunkel und bedarf deshalb der Deutung und Erklärung.

γ) Diese Erklärung, obschon sie die zunächst bloß in Form des Natürlichen vorliegende Verkündigung des Gottes vergeistigt ins Bewußtsein bringt, bleibt dessenungeachtet dunkel und doppelsinnig. Denn der Gott ist in seinem Wissen und Wollen konkrete Allgemeinheit; derselben Art muß auch sein Rat oder Befehl sein, den das Orakel offenbar macht. Das Allgemeine aber ist nicht einseitig und abstrakt, sondern enthält als konkret die eine wie die andere Seite. Indem nun der Mensch dem wissenden Gott gegenüber als unwissend dasteht, nimmt er den Orakelspruch selber unwissend auf; d. h. die konkrete Allgemeinheit desselben ist ihm nicht offenbar, und er kann sich aus dem doppelsinnigen Wort des Gottes, wenn er danach zu handeln sich entschließt, nur eine Seite herauswählen, da jede Handlung unter besonderen Umständen immer bestimmt, nur nach einer Seite hin entscheidend und die andere ausschließend sein muß. Kaum aber hat er gehandelt und die Tat, die dadurch die seinige geworden ist und für die er einstehen muß, wirklich vollbracht, so gerät er in Kollision; er sieht plötzlich die andere Seite, welche implizite gleichfalls in dem Orakelspruche lag, gegen sich gekehrt, und ihn ergreift wider sein Wissen und Wollen das Schicksal seiner Tat, das nicht er, wohl aber die Götter wissen. Umgekehrt sind wiederum die Götter bestimmte Mächte, und ihr Ausspruch, wenn er diesen Charakter der Bestimmtheit an sich trägt, wie der Befehl z. B. des Apollo, welcher den Orestes zur Rache treibt, bringt ebensosehr durch diese Bestimmtheit in Kollision. - Da nun einerseits die Form, welche das innere Wissen des Gottes im Orakel annimmt, die ganz unbestimmte Äußerlichkeit oder die abstrakte Innerlichkeit des Wortes ist und der Gehalt selbst durch seinen Doppelsinn die Möglichkeit des Zwiespalts in sich begreift, so ist es in der klassischen Kunst nicht die Skulptur, sondem die Poesie, und vornehmlich die dramatische, in welcher die Orakel eine Seite des Inhalts ausmachen und von Wichtigkeit werden. In der klassischen Kunst aber erhalten sie wesentlich eine Stelle, weil in ihr die menschliche Individualität noch nicht bis zu der Spitze der Innerlichkeit heraufgedrungen ist, auf welcher das Subjekt die Entschließung zu seinem Handeln rein aus sich selbst nimmt. Was wir in unserem Sinne des Worts Gewissen nennen, hat hier noch nicht seinen Platz gefunden. Der griechische Mensch handelt zwar oft aus eigener Leidenschaft, aus schlimmer wie aus guter, das echte Pathos jedoch, das ihn beseelen sollte und beseelt, kommt von den Göttern, deren Inhalt und Macht das Allgemeine solch eines Pathos ist, und die Helden sind entweder unmittelbar davon erfüllt, oder sie fragen die Orakel um Rat, wenn sich ihnen die Götter nicht selber, um die Tat zu befehlen, vor Augen stellen.


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