2. Sinnlichkeit, Maßlosigkeit und personifizierende Tätigkeit der indischen Phantasie

 

Umgekehrt springt die indische Anschauung aber ebensosehr unmittelbar aus dieser Übersinnlichkeit in die wildeste Sinnlichkeit über. Da jedoch die unmittelbare und dadurch ruhige Identität beider Seiten aufgehoben und statt derselben die Differenz innerhalb der Identität zum Grundtypus geworden ist, so stößt uns dieser Widerspruch vermittlungslos aus dem Endlichsten ins Göttliche, aus diesem wieder ins Endlichste hinein, und wir leben unter den Gestaltungen, welche aus diesem wechselseitigen Verkehren der einen Seite in die andere entstehen, wie in einer Hexenwelt, wo keine Bestimmtheit der Gestalt, wenn man sie festzuhalten hofft, standhält, sondern plötzlich sich ins Entgegengesetzte verwandelt oder sich zur Übertriebenheit aufbläht und auseinanderspreizt.

Die allgemeinen Weisen nun, in welchen die indische Kunst zum Vorschein kommt, sind folgende.

a) Auf der einen Seite legt die Vorstellung in das unmittelbar Sinnliche und Einzelne den ungeheuersten Inhalt des Absoluten so hinein, daß dieses Einzelne selbst, wie es geht und steht, solch einen Inhalt in sich vollkommen darstellen und als derselbe für die Anschauung existieren soll. Im Ramajana z. B. ist der Freund des Ramas, der Fürst der Affen Hanumat, eine Hauptgestalt und vollbringt die tapfersten Taten. Überhaupt wird in Indien der Affe göttlich verehrt, und es gibt eine ganze Affenstadt. In dem Affen, als diesem einzelnen, wird der unendliche Inhalt des Absoluten angestaunt und vergöttert. Ebenso die Kuh Sabala, welche im Ramajana gleichfalls in der Episode von Wiswamitras Büßungen mit unermeßlicher Macht bekleidet erscheint. Weiterhinauf gibt es in Indien Familien, in welchen das Absolute selbst, als dieser wirkliche, wenn auch ganz stumpfe und einfältige Mensch vegetiert, der in seiner unmittelbaren Lebendigkeit und Gegenwart als Gott verehrt wird. Dasselbe finden wir auch im Lamaismus, wo auch ein einzelner Mensch als der gegenwärtige Gott der höchsten Anbetung genießt. In Indien aber wird diese Verehrung nicht nur einem ausschließlich gezollt, sondern jeder Brahmane gilt von Hause aus durch die Geburt in seiner Kaste schon als Brahman und hat die den Menschen mit Gott identifizierende Wiedergeburt durch den Geist auf natürliche Weise schon durch die sinnliche Geburt vollbracht, so daß also die Spitze des Göttlichsten selber unmittelbar in die ganz gemeine sinnliche Wirklichkeit des Daseins zurückfällt. Denn obschon es den Brahmanen zur heiligsten Pflicht gemacht ist, die Wedas zu lesen und dadurch die Einsicht in die Tiefen der Gottheit zu erlangen, so kann dieser Pflicht doch ebensosehr, ohne dem Brahmanen seine Göttlichkeit zu nehmen, mit der größten Geistlosigkeit Genüge geschehen. In der ähnlichen Weise ist eins der allgemeinsten Verhältnisse, welches die Inder darstellen, das Erzeugen, Entstehen, wie die Griechen den Eros als den ältesten Gott angeben. Dies Erzeugen nun, die göttliche Tätigkeit, wird wiederum in vielfachen Darstellungen ganz sinnlich genommen, und die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile werden aufs heiligste gehalten. Ebensosehr wird das Göttliche, wenn es auch für sich in seiner Göttlichkeit in die Wirklichkeit hineintritt, ganz trivial mitten in das Alltägliche hineingezogen. So wird z. B. im Anfange des Ramajana erzählt, wie Brahma zu Walmiki, dem mythischen Sänger des Ramajana, gekommen sei. Walmiki empfängt ihn ganz in der gewöhnlichen indischen Weise, bekomplimentiert ihn, setzt ihm einen Stuhl vor, bringt ihm Wasser und Früchte, Brahma setzt sich wirklich nieder und nötigt auch seinen Wirt, das gleiche zu tun; so sitzen sie lange Zeit, bis endlich Brahma dem Walmiki befiehlt, den Ramajana zu dichten.

Dies ist nun gleichfalls noch keine eigentlich symbolische Auffassung, denn obschon hier, wie das Symbol es fordert, die Gestalten aus dem Vorhandenen her aufgenommen und auf allgemeinere Bedeutungen angewendet werden, so fehlt hier doch die andere Seite, daß nämlich die besonderen Existenzen nicht die absolute Bedeutung für die Anschauung wirklich sein, sondern dieselbe nur andeuten sollen. Für die indische Phantasie sind der Affe, die Kuh, der einzelne Brahmane usf. nicht ein verwandtes Symbol des Göttlichen, sondern sie sind als das Göttliche selber, als ein demselben adäquates Dasein betrachtet und dargestellt.

Hierin aber liegt der Widerspruch, welcher die indische Kunst zu einer zweiten Weise der Auffassung hinübertreibt. Denn einerseits ist das schlechthin Unsinnliche, das Absolute als solches, die Bedeutung schlechthin, als das wahrhaft Göttliche ergriffen, auf der anderen Seite [sind] die Einzelheiten der konkreten Wirklichkeit auch in ihrem sinnlichen Dasein von der Phantasie unmittelbar als göttliche Erscheinungen angesehen. Zum Teil zwar sollen sie nur besondere Seiten des Absoluten ausdrücken, doch auch dann noch ist das unmittelbar Einzelne, das als gemäßes Dasein dieser bestimmten Allgemeinheit dargestellt wird, diesem seinem Inhalt schlechthin nur ungemäß und mit demselben in um so grellerem Widerspruch, als die Bedeutung hier schon in ihrer Allgemeinheit gefaßt und doch ausdrücklich in dieser Allgemeinheit als mit dem Sinnlichsten und Einzelnsten unmittelbar von der Phantasie in Identität gesetzt ist.

b) Die nächste Lösung dieses Zwiespalts sucht nun die indische Kunst, wie bereits oben ist angedeutet worden, in der Maßlosigkeit ihrer Gebilde. Die einzelnen Gestalten, um die Allgemeinheit als sinnliche Gestalten selber erreichen zu können, werden ins Kolossale, Groteske wild auseinandergezerrt. Denn die einzelne Gestalt, welche nicht sich selber und die ihr als besonderer Erscheinung eigentümliche, sondern eine außerhalb ihrer liegende allgemeine Bedeutung ausdrücken soll, genügt nun der Anschauung nicht eher, als bis sie aus sich selber heraus ins Ungeheure hin ohne Ziel und Maß fortgerissen wird. Hier ist es denn vornehmlich die verschwenderischste Übertreibung der Größe, in der räumlichen Gestalt sowohl als auch in der zeitlichen Unermeßlichkeit, und die Vervielfältigung ein und derselben Bestimmtheit, die Vielköpfigkeit, die Menge der Arme usf., durch welche das Erreichen der Weite und Allgemeinheit der Bedeutungen erstrebt wird. Das Ei z. B. schließt den Vogel ein. Diese einzelne Existenz nun wird zu der unermeßlichen Vorstellung eines Welteies als Einhüllung des allgemeinen Lebens aller Dinge erweitert, in welchem Brahma, der zeugende Gott, ratlos ein Schöpfungsjahr zubringt, bis durch seinen bloßen Gedanken die Hälften des Eies auseinanderfallen. Außer natürlichen Gegenständen werden nun auch menschliche Individuen und Begebenheiten ebensosehr zur Bedeutung eines wirklichen göttlichen Tuns in einer Weise erhöht, daß weder das Göttliche für sich noch das Menschliche kann festgehalten werden, sondern beides stets ineinander herüber- und hinübergewirrt erscheint. Hierher gehören besonders die Inkarnationen der Götter, hauptsächlich Wischnus, des erhaltenden Gottes, dessen Taten einen Hauptinhalt der großen epischen Gedichte abgeben. Die Gottheit geht in diesen Verkörperungen unmittelbar in die weltliche Erscheinung über. So ist z. B. Rama die siebente Inkarnation Wischnus (Ramatschandra). Nach einzelnen Bedürfnissen, Handlungen, Zuständen, Gestalten und Weisen des Benehmens zeigt es sich in diesen Gedichten, daß ihr Inhalt hergenommen sei aus zum Teil wirklichen Begebenheiten, aus den Taten älterer Könige, welche neue Zustände der Ordnung und Gesetzlichkeit zu gründen kräftig waren, und man ist deshalb mitten im Menschlichen auf dem festen Boden der Wirklichkeit. Umgekehrt aber ist dann alles wieder erweitert, ins Nebulose ausgedehnt, ins Allgemeine hinübergespielt, so daß man den kaum gewonnenen Boden wieder verliert und nicht weiß, wo man ist. Ähnlich geht es auch in der Sakuntala zu. Anfangs haben wir die zarteste, duftigste Liebeswelt vor uns, in welcher alles in menschlicher Weise seinen gemäßen Gang geht, dann aber werden wir plötzlich dieser ganzen konkreten Wirklichkeit entrückt und in die Wolken in Indras Himmel hinübergehoben, wo alles verändert ist und aus seinem bestimmten Kreise heraus zu allgemeinen Bedeutungen des Naturlebens im Verhältnis zu Brahma-nen und der Macht über die Naturgötter, welche durch strenge Büßungen dem Menschen verliehen wird, erweitert.

Auch diese Darstellungsweise ist nicht eigentlich symbolisch zu nennen. Denn das eigentliche Symbol läßt die bestimmte Gestalt, welche sie verwendet, in ihrer Bestimmtheit bestehen, wie sie ist, weil sie darin nicht das unmittelbare Dasein der Bedeutung ihrer Allgemeinheit nach anschauen will, sondern in den verwandten Qualitäten des Gegenstandes auf die Bedeutung nur hinweist. Die  indische Kunst aber, ob-schon sie Allgemeinheit und einzelne Existenz scheidet, fordert desse-nunerachtet noch die unmittelbare, durch die Phantasie produzierte Einheit beider und muß deshalb das Daseiende seiner Begrenztheit entnehmen und in selbst sinnlicher Weise ins Unbestimmte vergrößern und überhaupt verwandeln und verunstalten. In diesem Zerfließen der Bestimmtheit und in der Verwirrung, welche dadurch hervorkommt, daß immer der höchste Gehalt in Dinge, Erscheinungen, Begebnisse und Taten hineingelegt wird, welche in ihrer Begrenztheit die Macht solchen Inhalts weder an und für sich in sich haben, noch auszudrücken fähig sind, kann man daher eher einen Anklang der Erhabenheit als das eigentlich Symbolische suchen. Im Erhabenen nämlich, wie wir es noch später werden kennenlernen, drückt die endliche Erscheinung das Absolute, das sie zur Anschauung bringen soll, nur so aus, daß an der Erscheinung selber heraustritt, sie könne den Inhalt nicht erreichen. So ist es z. B. mit der Ewigkeit. Ihre Vorstellung wird erhaben, wenn sie soll in zeitlicher Weise ausgesprochen werden, indem jede größte Zahl immer noch nicht genügend ist und fort und fort, ohne zu Ende zu kommen, vermehrt werden muß. Wie es von Gott heißt: »Tausend Jahre sind vor dir ein Tag.« In dieser und ähnlicher Art enthält die indische Kunst vieles, das diesen Ton der Erhabenheit anzuschlagen beginnt. Der große Unterschied jedoch von der eigentlichen Erhabenheit besteht darin, daß die indische Phantasie in solchen wilden Gestaltungen das Negativsetzen der Erscheinungen, welche sie vorführt, nicht vollbringt, sondern gerade durch jene Maßlosigkeit und Unbegrenztheit den Unterschied und Widerspruch des Absoluten und seiner Gestaltung ausgelöscht und verschwunden glaubt. - Sowenig wir sie nun in dieser Übertreibung als eigentlich symbolisch und erhaben gelten lassen können, ebensowenig ist sie eigentlich schön. Denn sie gibt uns zwar, hauptsächlich in Schilderung des Menschlichen als solchen, viel Liebliches und Mildes, viel freundliche Bilder und zarte Empfindungen, die glänzendsten Naturbeschreibungen und reizendsten, kindlichsten Züge der Liebe und unbefangenen Unschuld, ebensoviel Großartiges und Edles; aber was die allgemeinen Grundbedeutungen betrifft, so bleibt das Geistige umgekehrt doch immer wieder ganz sinnlich, das Plattste steht neben dem Höchsten, die Bestimmtheit ist zerstört, das Erhabene bloße Grenzenlosigkeit, und was dem Mythos angehört, geht größtenteils nur zur Phantastik einer ruhelos umhersuchenden Einbildungskraft und verstandlosen Gestaltungsgabe fort.

 


 © textlog.de 2004 • 18.04.2024 23:40:22 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright