a. Die individuelle Selbständigkeit: Heroenzeit

 

ββ) Wie nun aber im Heroenzustande das Subjekt mit seinem gesamten Wollen, Tun, Vollbringen im unmittelbaren Zusammenhange bleibt, so steht es auch ungeteilt für das ein, was irgend an Folgen aus diesem Tun entspringt. Wenn wir dagegen handeln oder Handlungen beurteilen, so fordern wir, um dem Individuum eine Handlung imputieren zu können, daß es die Art seiner Handlung und die Umstände, unter welchen dieselbe vollbracht ist, gewußt und erkannt habe. Ist der Inhalt der Umstände von anderer Art und trägt die Objektivität insofern andere Bestimmungen in sich als diejenigen, welche in das Bewußtsein des Handelnden getreten sind, so nimmt der heutige Mensch nicht den gesamten Umfang dessen, was er getan hat, auf sich, sondern er weist den Teil seiner Tat von sich ab, welcher durch ein Nichtwissen oder Verkennen der Umstände selber anders geworden ist, als er im Willen lag, und rechnet sich nur das zu, was er gewußt und in Beziehung auf dieses Wissen mit Vorsatz und Absicht vollbracht hat. Der heroische Charakter aber macht diese Unterscheidung nicht, sondern steht für das Ganze seiner Tat mit seiner ganzen Individualität ein. Ödipus z. B. begegnet auf der Wanderung zum Orakel einem Manne und erschlägt ihn im Zwist. In den Tagen dieses Streites wäre die Tat kein Verbrechen gewesen; der Mann hat sich gewalttätig gegen ihn bezeigt. Aber derselbe Mann war sein Vater. Ödipus heiratet eine Königin; die Gattin ist seine Mutter; wissenlos ist er in eine blutschänderische Ehe getreten. Dennoch erkennt er sich die Gesamtheit dieser Frevel zu und straft sich als Vatermörder und Blutschänder, obschon den Vater zu erschlagen und das Ehebett der Mutter zu besteigen weder in seinem Wissen noch in seinem Wollen gelegen hat. Die selbständige Gediegenheit und Totalität des heroischen Charakters will die Schuld nicht teilen und weiß von diesem Gegensatze der subjektiven Absichten und der objektiven Tat und ihrer Folgen nichts, während bei der Verwicklung und Verzweigung des heutigen Handelns jeder auf alle anderen rekurriert und die Schuld soweit als möglich von sich zurückschiebt. Unsere Ansicht ist in dieser Beziehung moralischer, insofern im Moralischen die subjektive Seite des Wissens von den Umständen und der Überzeugung vom Guten sowie der inneren Absicht beim Handeln ein Hauptmoment ausmacht. In der Heroenzeit aber, in welcher das Individuum wesentlich Eines und das Objektive als von ihm ausgehend das Seinige ist und bleibt, will das Subjekt nun auch, was es getan hat, ganz und allein getan haben und das Geschehene vollständig in sich hineinverlegen.

Ebensowenig trennt sich das heroische Individuum von dem sittlichen Ganzen ab, dem es angehört, sondern hat ein Bewußtsein von sich nur als in substantieller Einheit mit diesem Ganzen. Wir dagegen nach unserer heutigen Vorstellung scheiden uns als Personen mit unseren persönlichen Zwecken und Verhältnissen von  den Zwecken solcher Gesamtheit ab; das Individuum tut, was es tut, aus seiner Persönlichkeit heraus für sich als Person und steht deshalb auch nur für sein eigenes Handeln, nicht aber für das Tun des substantiellen Ganzen ein, dem es angehört. Daher machen wir den Unterschied z. B. von Person und Familie. Solch eine Scheidung kennt das Heroenzeitalter nicht. Die Schuld des Ahnherrn kommt dort auf den Enkel, und ein ganzes Geschlecht duldet für den ersten Verbrecher; das Schicksal der Schuld und des Vergehens erbt sich fort. Uns würde diese Verdammung als das vernunftlose Anheimfallen an ein blindes Geschick ungerecht erscheinen. Wie bei uns die Taten der Ahnen die Söhne und Enkel nicht adeln, so verunehren auch die Verbrechen und Strafen der Vorfahren die Nachkommen nicht und vermögen noch weniger ihren subjektiven Charakter zu beflecken; ja der heutigen Gesinnung nach ist selbst die Konfiskation des Familienvermögens eine Strafe, welche das Prinzip der tieferen subjektiven Freiheit verletzt. Aber in der alten plastischen Totalität ist das Individuum nicht vereinzelt in sich, sondern Glied seiner Familie, seines Stammes. Deshalb bleibt auch der Charakter, das Handeln und Schicksal der Familie die eigene Sache jedes Gliedes, und weit entfernt, seiner Eltern Taten und Geschick zu verleugnen, nimmt jeder Einzelne im Gegenteil sich derselben als der seinigen mit Willen an; sie leben in ihm, und so ist er das, was seine Väter waren, litten oder verbrachen. Uns gilt dies als Härte, aber das Nur-für-sich-Einstehen und die dadurch gewonnene subjektivere Selbständigkeit ist von der ändern Seite her auch nur die abstrakte Selbständigkeit der Person - während dagegen die heroische Individualität idealer ist, weil sie sich nicht in der formellen Freiheit und Unendlichkeit in sich genügt, sondern mit allem Substantiellen der geistigen Verhältnisse, welche sie zu lebendiger Wirklichkeit bringt, in steter unmittelbarer Identität zusammengeschlossen bleibt. Das Substantielle ist in ihr unmittelbar individuell und das Individuum dadurch in sich selber substantiell.

 


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 14:54:55 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright