a. Die individuelle Selbständigkeit: Heroenzeit

 

γ) In allen diesen Beziehungen haben in einem gesetzlich geordneten Staate die öffentlichen Gewalten nicht an ihnen selber individuelle Gestalt, sondern das Allgemeine als solches herrscht in seiner Allgemeinheit, in welcher die Lebendigkeit des Individuellen als aufgehoben oder als nebensächlich und gleichgültig erscheint. In solchem Zustande also ist die von uns geforderte Selbständigkeit nicht zu finden. Deshalb haben wir für freie Gestaltung der Individualität die entgegengesetzten Zustände gefordert, in welchen das Gelten des Sittlichen allein auf den Individuen beruht, welche sich aus ihrem besonderen Willen und der hervorragenden Größe und Wirksamkeit ihres Charakters an die Spitze der Wirklichkeit stellen, innerhalb welcher sie leben. Das Gerechte bleibt dann ihr eigenster Beschluß, und wenn sie das an und für sich Sittliche durch ihr Handeln verletzen, so gibt es keine öffentliche gewalthabende Macht, welche sie zur Rechenschaft zieht und bestraft, sondern nur das Recht einer inneren Notwendigkeit, welche sich lebendig zu besonderen Charakteren, äußerlichen Zufälligkeiten und Umständen usf. individualisiert und nur in dieser Form wirklich wird. Hierin unterscheidet sich eben die Strafe von der Rache. Die gesetzliche Strafe macht das allgemeine festgesetzte Recht gegen das Verbrechen geltend und übt sich durch ihre Organe der öffentlichen Gewalt, durch Gericht und Richter, welche als Person das Akzidenteile sind, nach allgemeinen Normen aus. Die Rache kann gleichfalls an sich selbst gerecht sein, aber sie beruht auf der Subjektivität derer, welche sich der geschehenen Tat annehmen und aus dem Recht ihrer eigenen Brust und Gesinnung heraus das Unrecht an dem Schuldigen rächen. Die Rache des Orest z. B. ist gerecht gewesen, aber er hat sie nur nach dem Gesetz seiner partikulären Tugend, nicht aber nach Urteil und Recht ausgeführt. - In dem Zustande, den wir für die Kunstdarstellung in Anspruch nahmen, soll also durchgängig das Sittliche und Gerechte individuelle Gestalt in dem Sinne behalten, daß es ausschließlich von den Individuen abhängt und nur in ihnen und durch sie zur Lebendigkeit und Wirklichkeit gelangt. So ist, um auch dies noch anzuführen, in den geordneten Staaten die äußere Existenz des Menschen gesichert, sein Eigentum beschützt, und er hat eigentlich nur seine subjektive Gesinnung und Einsicht für sich und durch sich. In jenem staatslosen Zustande aber beruht auch die Sieherung des Lebens und Eigentums nur in der einzelnen Kraft und Tapferkeit jedes Individuums, das auch für seine eigene Existenz und die Erhaltung dessen, was ihm gehört und gebührt, zu sorgen hat.

Ein solcher Zustand ist es, den wir der Heroenzeit zuzuschreiben gewohnt sind. Welcher von diesen Zuständen nun aber, der eines ausgebildeten Staatslebens oder der eines Heroenzeitalters, der bessere sei, ist hier zu erläutern der Ort nicht. Wir haben es hier nur mit dem Ideal der Kunst zu tun, und für die Kunst muß die Scheidung von Allgemeinheit und Individualität noch nicht in der angegebenen Weise heraustreten, wie sehr dieser Unterschied auch für die sonstige Wirklichkeit des geistigen Daseins notwendig ist. Denn die Kunst und ihr Ideal ist eben das Allgemeine, insofern es für die Anschauung gestaltet und deshalb mit der Partikularität und deren Lebendigkeit noch in unmittelbarer Einheit ist. aa) Dies findet in dem sogenannten Heroenzeitalter statt, das als eine Zeit erscheint, in welcher die Tugend, aretê im Sinne der Griechen, den Grund der Handlungen ausmacht. Wir müssen in dieser Rücksicht aretê und virtus nach römischer Bedeutung wohl unterscheiden. Die Römer hatten sogleich ihre Stadt, ihre gesetzlichen Einrichtungen, und gegen den Staat als den allgemeinen Zweck sollte die Persönlichkeit sich aufgeben. Abstrakt nur ein Römer zu sein, in der eigenen energischen Subjektivität nur den römischen Staat, das Vaterland und dessen Hoheit und Macht vorzustellen, das ist der Ernst und die Würde der Römertugend. Heroen dagegen sind Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist. Diese unmittelbare Einheit aber von Substantiellem und Individualität der Neigung, der Triebe, des Wollens liegt in der griechischen Tugend, so daß die Individualität sich selbst das Gesetz ist, ohne einem für sich bestehenden Gesetz, Urteil und Gericht unterworfen zu sein. So treten z. B. die griechischen Heroen in einem vorgesetzlichen Zeitalter auf oder werden selber Stifter von Staaten, so daß Recht und Ordnung, Gesetz und Sitte von ihnen ausgehen und sich als ihr individuelles Werk, das an sie geknüpft bleibt, verwirklichen. In dieser Weise ward schon Herkules von den Alten gepriesen und steht für sie als ein Ideal ursprünglicher heroischer Tugend da. Seine freie selbständige Tugend, in welcher er aus der Partikularität seines Willens dem Unrecht steuert und gegen menschliche und natürliche Ungeheuer kämpft, ist nicht der allgemeine Zustand seiner Zeit, sondern gehört ihm ausschließlich und eigentümlich an. Und dabei ist er nicht eben ein moralischer Held, wie seine Geschichte mit den fünfzig Töchtern des Thespios zeigt, die in einer Nacht von ihm empfangen haben, und auch nicht vornehm, wenn wir des Augiasstalles gedenken, sondern er erscheint überhaupt als ein Bild dieser vollkommen selbständigen Kraft und Stärke des Rechten und Gerechten, für dessen Verwirklichung er sich unzähligen Mühseligkeiten und Arbeiten aus freier Wahl und eigener Willkür unterzogen hat. Zwar vollbringt er einen Teil seiner Taten im Dienste und auf Befehl des Eurystheus, doch diese Abhängigkeit ist nur ein ganz abstrakter Zusammenhang, kein vollständig gesetzliches und befestigtes Band, durch welches ihm die Kraft selbständig für sich handelnder Individualität entzogen würde. - Von ähnlicher Art sind die Homerischen Helden. Allerdings haben auch sie ein gemeinschaftliches Oberhaupt, doch ihr Verband ist gleichfalls kein schon vorher gesetzlich feststehendes Verhältnis, das sie zur Unterwerfung nötigte, sondern sie folgen dem Agamemnon freiwillig, der kein Monarch im heutigen Sinne des Worts ist; und so gibt nun auch jeder der Helden seinen Rat, der erzürnte Achill trennt sich selbständig los, und überhaupt kommt und geht, kämpft und ruht jeder, wie es ihm eben beliebt. In der gleichen Selbständigkeit, an keine ein für allemal befestigte Ordnung gebunden und [nicht] als bloße Partikeln derselben, treten die Helden der älteren arabischen Poesie auf, und auch das Schah-nameh des Firdusi liefert uns ähnliche Gestalten. Im christlichen Abendlande ist das Lehnsverhältnis und Rittertum der Boden für freie Heldenschaft und auf sich beruhende Individualitäten. Von dieser Art sind die Helden der Tafelrunde sowie der Heldenkreis, dessen Mittelpunkt Karl der Große bildet. Karl ist wie Agamemnon von freien Heldengestalten umgeben und deshalb ein gleich machtloser Zusammenhalt, indem er seine Vasallen stets muß zu Rate ziehen und zuzusehen genötigt ist, wie sie ebensosehr ihren eigenen Leidenschaften folgen und, mag er auch poltern wie Jupiter auf dem Olymp, ihn dennoch mit seinen Unternehmungen im Stiche lassen und selbständig auf Abenteuer ausziehen. Das vollendete Musterbild ferner für dies Verhältnis finden wir im Cid. Auch er ist Genoß eines Bundes, einem Könige anhängig, und hat seinen Vasallenpflichten Genüge zu leisten, aber diesem Verbände steht das Gesetz der Ehre als die Herrscherstimme der eigenen Persönlichkeit gegenüber, für deren unbefleckten Glanz, Adel und Ruhm der Kastilianer kämpft. Und so kann der König auch hier nur mit Rat und Einwilligung seiner Vasallen richten, beschließen, Krieg führen; wollen sie nicht, so fechten sie nicht mit und unterwerfen sich auch nicht etwa einer Majorität von Stimmen, sondern jeder steht für sich da und schöpft seinen Willen wie seine Kraft zum Handeln aus sich selber. Ein ähnliches glänzendes Bild unabhängiger Selbständigkeit bieten die sarazenischen Helden dar, welche sich uns in fast noch spröderer Gestalt zeigen. - Selbst der Reineke Fuchs erneuert uns den Anblick eines ähnlichen Zustandes. Der Löwe ist zwar Herr und König, aber Wolf und Bär usw. sitzen gleichfalls mit zu Rat; Reineke und die anderen auch treiben's, wie sie wollen; kommt's zur Klage, so lügt sich der Schalk listig heraus oder findet partikuläre Interessen des Königs und der Königin, die er sich zunutze macht, indem er seinen Gebieter klug, wozu er eben mag, zu beschwatzen weiß.

 


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