XX.4. Kultur der Vernunft in Europa

 

 Daß die Übersetzung der Schriften des Aristoteles zur feinen Scholastik mehr als alles beitrug, ist schon aus dem Ansehen klar, das sich dieser griechische Weltweise in allen Schulen Europas ein halbes Jahrtausend hin zu erhalten wußte; die Ursache aber, weswegen man mit so heftiger Neigung auf diese Schriften fiel und sie meistens von den Arabern entlehnte, liegt nicht in den Kreuzzügen, sondern im Triebe des Jahrhunderts und in dessen Denkart. Der früheste Reiz, den die Wissenschaft der Araber für Europa hatte, waren ihre mathematische Kunstwerke samt den Geheimnissen, die man bei ihnen zur Erhaltung und Verlängerung des Lebens, zum Gewinn unermeßlicher Reichtümer, ja zur Kenntnis des waltenden Schicksals selbst zu finden hoffte. Man suchte den Stein der Weisen, das Elixier der Unsterblichkeit; in den Sternen las man zukünftige Dinge, und die mathematischen Werkzeuge selbst schienen Zauberinstrumente. So ging man als Kind dem Wunderbaren nach, am einst statt seiner das Wahre zu finden, und unternahm dazu die beschwerlichsten Reisen. Schon im eilften Jahrhundert hatte Konstantin der Afrikaner von Karthago aus 39 Jahre lang den Orient durchstreift, um die Geheimnisse der Araber in Babylonien, Indien, Ägypten zu sammlen; er kam zuletzt nach Europa und übersetzte als Mönch zu Monte Cassino aus dem Griechischen und Arabischen viele insonderheit zur Arzneikunst dienende Schriften. Sie kamen, so schlecht die Übersetzung sein mochte, in vieler Hände, und durch die arabische Kunst hob sich zu Salerno die erste Schule der Arzneiwissenschaft mächtig empor. Aus Frankreich und England gingen die Wißbegierige nach Spanien, um den Unterricht der berühmtesten arabischen Lehrer selbst zu genießen; sie kamen zurück, wurden für Zauberer angesehen, wie sie sich denn auch selbst mancher geheimen Künste als Zaubereien rühmten. Dadurch gelangten Mathematik, Chemie, Arzneikunde teils in Schriften, teils in Entdeckungen und Proben der Ausübung auf die berühmtesten Schulen Europas. Ohne Araber wäre kein Gerbert, kein Albertus Magnus, Arnold von Villa Nova, kein Roger Baco, Raimund Lull u. a. entstanden; entweder hatten sie in Spanien von ihnen selbst oder aus ihren Schriften gelernt. Selbst Kaiser Friedrich II., der zur Übersetzung arabischer Schriften und zum Aufleben jeder Wissenschaft unermüdlich beitrug, liebte diese nicht ohne Aberglauben. Jahrhundertelang erhielt sich teils die Neigung zu reisen, teils die Sage von Reisen nach Spanien, Afrika und dem Orient, wo von stillen Weisen die herrlichsten Geheimnisse der Natur zu erlernen wären; manche geheime Orden, große Zünfte fahrender Scholastiker sind daraus entstanden; ja die ganze Gestalt der philosophischen und mathematischen Wissenschaften bis über das Jahrhundert der Reformation hinaus verrät diesen arabischen Ursprung.

 Kein Wunder, daß sich an eine solche Philosophie die Mystik anschloß, die sich selbst an ihr zu einem der feinsten Systeme beschaulicher Vollkommenheit gebildet. Schon in der ersten christlichen Kirche war aus der neuplatonischen Philosophie in mehrere Sekten Mystik gegangen; durch die Übersetzung des falschen Dionysius Areopagita kam sie nach Okzident in die Klöster; manche Sekten der Manichäer nahmen an ihr teil, und sie gelangte endlich, mit und ohne Scholastik, unter Mönchen und Nonnen zu einer Gestalt, in welcher sich bald die spitzfündigste Grübelei der Vernunft, bald die zarteste Feinheit des liebenden Herzens offenbart. Auch sie hat ihr Gutes bewirkt, indem sie die Gemüter vom bloßen Cerimoniendienst abzog, sie zur Einkehr in sich selbst gewöhnte und mit geistiger Speise erquickte. Einsamen, der Welt entnommenen, schmachtenden Seelen gab sie außer dieser Welt Trost und Übung, wie sie denn auch durch eine Art geistlichen Romans die Empfindungen selbst verfeinte. Sie war eine Vorläuferin der Metaphysik des Herzens, wie die Scholastik eine Vorarbeiterin der Vernunft war, und beide hielten einander die Waage. Glücklich, daß die Zeilen beinahe vorbei sind, in welchen dies Opium Arznei war und leider sein mußte.309)

 Die Wissenschaft der Rechte endlich, diese praktische Philosophie des Gefühls der Billigkeit und des gesunden Verstandes, hat, da sie mit neuem Licht zu scheinen anfing, mehr als Mystik und Spekulation zum Wohl Europas beigetragen und die Rechte der Gesellschaft fester gegründet. In Zeiten ehrlicher Einfalt bedarf man vieler geschriebenen Gesetze nicht, und die rohen deutschen Völker sträubeten sich mit Recht gegen die Spitzfündigkeit römischer Sachführer; in Ländern anderer polizierten, zum Teil verdorbenen Völker wurden ihnen nicht nur eigne geschriebene Gesetze, sondern bald auch ein Auszug des römischen Rechts unentbehrlich. Und da dieser gegen eine fortgehende, mit jedem Jahrhundert wachsende päpstliche Gesetzgebung zuletzt nicht hinreichte, so war es gut, daß man auch das ganze Korpus der römischen Rechte hervorzog, damit sich der Verstand und das Urteil erklärender und tätiger Männer an ihnen übte. Nicht ohne Ursach empfahlen die Kaiser dies Studium ihren zumal italienischen hohen Schulen; denn ihnen wurde's eine Rüstkammer gegen den Papst; auch hatten alle entstehende Freistädte dasselbe Interesse, es gegen Papst, Kaiser und ihre kleinen Tyrannen zu gebrauchen. Unglaublich also vermehrte sich die Zahl der Rechtsgelehrten; sie waren, als gelehrte Ritter, als Verfechter der Freiheit und des Eigentums der Völker, an Höfen, in Städten und auf Lehrstühlen im höchsten Ansehen, und das vielbesuchte Bologna wurde durch sie die gelehrte Stadt. Was Frankreich in der Scholastik war, wurde Italien durch Emporbringung der Rechte: das altrömische und das kanonische Recht wetteiferten miteinander; mehrere Päpste selbst waren die rechtsgelehrtesten Männer. Schade, daß die Erweckung dieser Wissenschaft noch auf Zeiten traf, in welchen man die Quellen unrein fand und den Geist des alten römischen Volks nur durch einen trüben Nebel entdeckte. Schade, daß die grübelnde Scholastik sich auch dieser praktischen Wissenschaft anmaßte und die Aussprüche der verständigsten Männer zu einem verfänglichen Wortgespinst machte. Schade endlich, daß man ein Hülfsstudium, eine Übung der Urteilskraft nach dem Muster der größesten Verstandesmänner des Altertums, zur positiven Norm, zu einer Bibel der Gesetze in allen, auch den neuesten und unbestimmtesten Fällen annahm. Damit wurde jener Geist der Schikane eingeführt, der den Charakter fast aller europäischer Nationalgesetzgebungen mit der Zeit beinahe ausgelöscht hätte. Barbarische Büchergelehrsamkeit trat in die Stelle lebendiger Sachkenntnis; der Rechtsgang wurde ein Labyrinth von Förmlichkeiten und Wortgrübeleien; statt eines edeln Richtersinnes wurde der Scharfsinn der Menschen zu Kunstgriffen geschärft, die Sprache des Rechts und der Gesetze fremde und verwirrt gemacht, ja endlich mit der siegenden Gewalt der Oberherren ein falsches Regentenrecht über alles begünstigt. Die Folgen davon haben auf lange Zeiten gewirkt.

 Traurig wird der Anblick, wenn man den Zustand des in Europa wiedererwachenden Geistes mit einigen altern Zeiten und Völkern vergleicht. Aus einer rohen und dumpfen Barbarei, unter dem Druck geistund weltlicher Herrschaft geht alles Gute furchtsam hervor; hier wird das beste Samenkorn auf hartem Wege zertreten oder von Raubvögeln geholet; dort darf es sich unter Dornen nur mühsam emporarbeiten und erstickt oder verdorrt, weil ihm der wohltätige Boden alter Einfalt und Güte fehlt. Die erste Volksreligion kommt unter verfolgten, zum Teil schwärmenden Ketzern, die Philosophie auf Hörsälen streitender Dialektiker, die nützlichsten Wissenschaften als Zauberei und Aberglaube, die Lenkung menschlicher Empfindungen als Mystik, eine bessere Staatsverfassung als ein abgetragener, geflickter Mantel einer längst verlebten, ganz ungleichartigen Gesetzgebung zum Vorschein; hiedurch soll Europa sich aus dem verworrensten Zustande hervorheben und neu bilden. Was indessen dem Boden der Kultur an lockerer Tiefe, den Hülfsmitteln und Werkzeugen an Brauchbarkeit, der Luft an Heiterkeit und Freiheit entging, ersetzt vielleicht der Umfang des Gefildes, das bearbeitet, der Wert der Pflanze, die erzogen werden sollte. Kein Athen oder Sparta, Europa soll hier gebildet werden; nicht zur Kalokagathie eines griechischen Weisen oder Künstlers, sondern zu einer Humanität und Vernunft, die mit der Zeit den Erdball umfaßte. Lasst uns sehen, was dazu für Veranstaltungen gemacht, was für Entdeckungen ins Dunkel der Zeiten hingestreut wurden, damit sie die Folgezeit reifte.

 


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