XVIII.3. Reiche der Alemannen, Burgunder und Franken

 

3. Unter solchen Umständen konnte sich in Gallien die erste Reichsverfassung eines deutschen Volks auszeichnender entwickeln als in Italien, Spanien oder in Deutschland selbst. Der erste Schritt zu einer ringsum beherrschenden Monarchie war durch Klodwig getan, und sein Vorbild wurde stille Reichsregel. Trotz der öftern Teilung des Reichs, trotz der innern Zerrüttungen desselben durch Untaten im Königshause und die Zügellosigkeit der Großen zerfiel es doch nicht; denn es lag der Kirche daran, den Staat als Monarchie zu erhalten. Tapfre und kluge Kronbeamte traten an die Stelle ohnmächtiger Könige, die Eroberungen gingen fort, und man ließ lieber Klodwigs Stamm ausgehn, als einen der ganzen römischen Christenheit unentbehrlichen Staat sinken. Denn da die Verfassung deutscher Völker allenthalben eigentlich nur auf Persönlichkeit der Könige und Kronbeamten ruhte und in diesem Reich zwischen Arabern und Heiden darauf besonders ruhen mußte, so vereinigte sich alles, ihnen in diesem Grenzreiche den Damm entgegenzusetzen, den glücklicherweise das Haus Pipins von Heristall machte. Ihm und seinen tapfern Nachkommen haben wir's zu danken, daß den Eroberungen der Araber sowohl als dem Fortdrange der nörd- und östlichen Völker ein Ziel gesteckt war, daß diesseit der Alpen wenigstens ein Schimmer der Wissenschaft sich erhalten und in Europa endlich ein politisches System deutscher Art errichtet worden ist, an welches sich mit Güte oder Gewalt andere Völker zuletzt knüpfen mußten. Da Karl der Große der Gipfel dieser um ganz Europa verdienten Sprosse ist, so möge sein Bild uns statt aller dastehn.283)

 Karl der Große stammte von Kronbeamten ab; sein Vater war nur ein gewordner König. Unmöglich also konnte er andere Gedanken haben, als die ihm das Haus seiner Väter und die Verfassung seines Reichs angab. Diese Verfassung bildete er aus, weil er in ihr erzogen war und sie für die beste hielt; denn jeder Baum erwächst aus seiner Erde. Wie ein Franke ging Karl gekleidet und war auch in seiner Seele ein Franke; die Verfassung seines Volkes also können wir gewiß nicht würdiger kennenlernen, als wie er sie behandelte und ansah. Er berief Reichstage und wirkte auf denselben, was er wollte, gab für den Staat die heilsamsten Gesetze und Kapitulare, aber mit Zustimmung des Reichs. Jeden Stand desselben ehrte er nach seiner Weise und ließ, solange es sein konnte, auch überwundenen Nationen ihre Gesetze. Sie alle wollte er in einen Körper zusammenbringen und hatte Geist genug, den Körper zu beleben. Gefährliche Herzoge ließ er ausgehen und setzte dafür beamtete Grafen, die er nebst den Bischöfen durch Kommissare (Missos) visitieren ließ und auf alle Weise dem Despotismus plündernder Satrapen, übermütiger Großen und fauler Mönche entgegenstrebte. Auf den Landgütern seiner Krone war er kein Kaiser, sondern ein Hauswirt, der auch in seinem gesamten Reiche gern ein solcher sein wollte, um jedes träge Glied zur Ordnung und zum Fleiße zu beleben; aber freilich stand ihm die Barbarei seines Zeitalters, wie insonderheit der fränkische Kirchen- und Kriegsgeist, hiebei oft im Wege. Er hielt aufs Recht, wie kaum einer der Sterblichen getan hat, das ausgenommen, wo Kirchen- und Staatsinteresse ihn selbst zu Gewalttätigkeit und Unrecht verlockten. Er liebte Tätigkeit und Treue in seinem Dienst und würde unhold blicken, wenn er wiedererscheinend seine Puppe der trägesten Titular- Verfassung vortragen sähe. Aber das Schicksal waltet. Aus Kronbeamten war der Stamm seiner Vorfahren emporgesproßt; Beamte schlechterer Art haben nach seinem Tode sein Diadem, sein Reich, ja die ganze Mühe seines Geistes und Lebens unwürdig zerstört. Die Nachwelt hat von ihm geerbt, was er, sofern er's konnte, zu unterdrücken oder zu bessern suchte, Vasallen, Stände und ein barbarisches Gepränge des fränkischen Staatsschmuckes. Er machte Würden zu Ämtern; hinter ihm wurden bald wieder die Ämter zu trägeren Würden.

 Auch die Begierde nach Eroberungen hatte Karl von seinen Vorfahren geerbt; denn da diese gegen Friesen, Alemannen, Araber und Longobarden entscheidend glücklich gewesen waren und es beinahe von Klodwig an Staatsmaxime wurde, das eroberte Reich durch Unterdrückung der Nachbarn sicherzustellen, so ging er mit Riesenschritten auf dieser Bahn fort. Persönliche Veranlassungen wurden der Grund zu Kriegen, deren einer aus dem andern erfolgte und die den größten Teil seiner fast halbhundertjährigen Regierung einnehmen. Diesen fränkischen Kriegsgeist fühlten Longobarden, Araber, Bayern, Ungarn, Slawen, insonderheit aber die Sachsen, gegen welche er sich in einem dreiunddreißigjährigen Kriege zuletzt sehr gewaltsame Mittel erlaubte. Er kam dadurch sofern zum Zweck, daß er in seinem Reich die erste feste Monarchie für ganz Europa gründete; denn was auch späterhin Normannen, Slawen und Ungarn seinen Nachfolgern für Mühe gemacht, wie sehr auch durch Teilungen und innere Zerrüttung das große Reich geschwächt, zerstückt und beunruhigt werden mochte, so war doch allen fernem tatarischen Völkerwanderungen bis zur Elbe und nach Pannonien hin eine Grenze gesetzt. Sein errichtetes Frankenreich, an welchem ehemals schon Hunnen und Araber gescheitert waren, wurde dazu ein unbezwinglicher Eckstein.

 Auch in seiner Religion und Liebe zu den Wissenschaften war Karl ein Franke. Von Klodwig an war aus politischen Ursachen die Religiosität des Katholizismus den Königen erblich gewesen; und seitdem die Stammväter Karls das Heft in Händen hatten, traten sie hierin um so mehr an die Stelle der Könige, da bloß die Kirche ihnen auf den Thron half und der römische Bischof selbst sie förmlich dazu weihte. Als ein zwölfjähriges Kind hatte Karl den Heil. Vater in seines Vaters Hause gesehen und von ihm die Salbung zu seinem künftigen Reich empfangen; längst war das Bekehrungswerk Deutschlands unter dem Schutz, oft auch mit freigebiger Unterstützung der fränkischen Beherrscher getrieben worden, weil westwärts ihnen das Christentum allerdings das stärkste Bollwerk gegen die heidnischen Barbaren war; wie anders, als daß Karl jetzt auch nordwärts auf diesem Wege fortging und die Sachsen zuletzt mit dem Schwert bekehrte? Von der Verfassung, die er dadurch unter ihnen zerstörte, hatte er als ein rechtgläubiger Franke keinen Begriff; er trieb das fromme Werk der Kirche zur Sicherung seines Reichs und gegen Papst und Bischöfe das verdienstvolle, galante Werk seiner Väter. Seine Nachfolger, zumal als das Hauptreich der Welt nach Deutschland kam, gingen seiner Spur nach, und so wurden Slawen, Wenden, Polen, Preußen, Liven und Esten dergestalt bekehrt, daß keins dieser getauften Völker fernere Einbrüche ins heilige deutsche Reich wagte. Sähe indes der heilige und selige Carolus (wie ihn auf ewige Zeiten die Goldne Bulle nennt), was aus seinen der Religion und Wissenschaft wegen errichteten Stiftungen, aus seinen reichen Bischoftümern. Domkirchen, Kanonikaten und Klosterschulen geworden ist: heiliger und seliger Carolus, mit deinem fränkischen Schwert und Zepter würdest du manchen derselben unfreundlich begegnen.

 4. Endlich ist nicht zu leugnen, daß der Bischof zu Rom auf dies alles das Siegel drückte und dem fränkischen Reich gleichsam die Krone aufsetzte. Von Klodwig an war er demselben Freund gewesen; zu Pipin hatte er seine Zuflucht genommen und empfing von ihm zum Geschenk die ganze Beute der damals eroberten longobardischen Länder. Zu Karl nahm er abermals seine Zuflucht, und da dieser ihn sieghaft in Rom einsetzte, so gab er ihm dafür in jener berühmten Christnacht ein neues Geschenk, die römische Kaiserkrone. Karl schien erschrocken und beschämt; der freudige Zuruf des Volkes indes machte ihm die neue Ehre gefällig, und da solche nach dem Begriff aller europäischen Völker die höchste Würde der Welt war, wer empfing sie würdiger als dieser Franke? Er, der größeste Monarch des Abendlandes, in Frankreich, Italien, Deutschland und Spanien König, des Christentums Beschützer und Verbreiter, des Römischen Stuhls echter Schirmvogt, von allen Königen Europas, selbst vom Kalifen zu Bagdad geehrt. Bald also verglich er sich mit dem Kaiser zu Konstantinopel, hieß Römischer Kaiser, ob er gleich in Aachen wohnte oder in seinem großen Reich umherzog; er hatte die Krone verdient, und o wäre sie mit ihm, wenigstens für Deutschland, begraben!

 Denn sobald er dahin war, was sollte sie jetzt auf dem Haupte des guten und schwachen Ludwigs? Oder als dieser sein Reich unzeitig und gezwungen teilte, wie drückend war sie auf jedes seiner Nachfolger Haupte! Das Reich zerfällt; die gereizten Nachbarn, Normannen, Slawen, Hunnen, regen sich und verwüsten das Land; das Faustrecht reißet ein; die Reichsversammlungen gehen in Abgang. Brüder führen mit Brüdern, Väter mit Söhnen die unwürdigsten Kriege, und die Geistlichkeit nebst dem Bischöfe von Rom werden ihre unwürdigen Richter. Bischöfe gedeihen zu Fürsten; die Streiterei der Barbaren jagt alles unter die Gewalt derer, die in Schlössern wohnen. In Deutschland, Frankreich und Italien richten sich Statthalter und Beamte zu Landesherren empor; Anarchie, Betrug, Grausamkeit und Zwietracht herrschen. Achtundachtzig Jahre nach Karls Kaiserkrönung erlischt sein rechtmäßiges Geschlecht in tiefstem Jammer, und seine letzte unechte Kaisersprosse erstirbt, noch nicht hundert Jahre nach seinem Tode. Nur ein Mann wie er konnte ein Reich von so ungeheurer Ausbreitung, von so künstlicher Verfassung, aus so widrigen Teilen zusammengesetzt und mit solchen Ansprüchen begabt, verwalten; sobald die Seele aus diesem Riesenkörper gewichen war, trennete sich der Körper und wurde auf Jahrhunderte hin ein verwesender Leichnam.

 Ruhe also wohl, großer König, zu groß für deine Nachfolger auf lange Zeiten. Ein Jahrtausend ist verflossen, und noch sind der Rhein und die Donau nicht zusammengegraben, wo du, rüstiger Mann, zu einem kleinen Zwecke schon Hand ans Werk legtest. Für Erziehung und Wissenschaften stiftetest du in deiner barbarischen Zeit Institute; die Folgezeit hat sie gemißbraucht und mißbraucht sie noch. Göttliche Gesetze sind deine Kapitulare gegen so manche Reichssatzungen späterer Zeiten. Du sammeltest die Barden der Vorwelt; dein Sohn Ludwig verachtete und verkaufte sie; er vernichtete damit ihr Andenken auf ewig. Du liebtest die deutsche Sprache und bildetest sie selbst aus, wie du es tun konntest, sammeltest Gelehrte um dich aus den fernsten Ländem; Alcuin, dein Philosoph, Angilbert, der Homer deiner Akademie bei Hofe, und der vortreffliche Eginhart, dein Schreiber, waren dir wert; nichts war dir mehr als Unwissenheit, satte Barbarei und träger Stolz zuwider. Vielleicht erscheinst du im Jahr 1800 wieder und änderst die Maschine, die im Jahre 800 begann; bis dahin wollen wir deine Reliquien ehren, deine Stiftungen gesetzmäßig mißbrauchen und dabei deine altfränkische Arbeitsamkeit verachten. Großer Karl, dein unmittelbar nach dir zerfallenes Reich ist dein Grabmal; Frankreich, Deutschland und die Lombardei sind seine Trümmern.

 


 © textlog.de 2004 • 20.04.2024 10:40:52 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright