XVII.1. Ursprung des Christentums samt den Grundsätzen, die in ihm lagen

 

So sonderbar es scheint, daß eine Revolution, die mehr als einen Weltteil der Erde betrat, aus dem verachteten Judäa hervorgegangen, so finden sich doch, bei näherer Ansicht, hiezu historische Gründe. Die Revolution nämlich, die von hier ausging, war geistig, und so verächtlich Griechen und Römer von den Juden denken mochten, so blieb es ihnen doch eigen, daß sie vor andern Völkern Asiens und Europens aus alter Zeit Schriften besaßen, auf welche ihre Verfassung gebaut war und an welchen sich, dieser Konstitution zufolge, eine besondre Art Wissenschaft und Literatur ausbilden mußte. Weder Griechen noch Römer besaßen einen solchen Kodex religiöser und politischer Einrichtung, der, mit altern geschriebenen Geschlechtsurkunden verknüpft, einem eignen zahlreichen Stamm anvertraut war und von ihm mit abergläubischer Verehrung aufbehalten wurde. Notwendig erzeugte sich aus diesem verjährten Buchstaben mit der Zeitfolge eine Art feineren Sinnes, zu welchem die Juden bei ihrer öftern Zerstreuung unter andere Völker gewöhnt wurden. Im Kanon ihrer heiligen Schriften fanden sich Lieder, moralische Sprüche und erhabene Reden, die, zu verschiedenen Zeiten nach den verschiedensten Anlässen geschrieben, in eine Sammlung zusammenwuchsen, welche man bald als ein fortgehendes System betrachtete und aus ihr einen Hauptsinn zog. Die Propheten dieser Nation, die als konstituierte Wächter des Landesgesetzes, jeder im Umkreise seiner Denkart, bald lehrend und ermunternd, bald warnend oder tröstend, immer aber patriotisch hoffend, dem Volk ein Gemälde hingestellt hatten, wie es sein sollte und wie es nicht war, hatten mit diesen Früchten ihres Geistes und Herzens der Nachwelt mancherlei Samenkörner zu neuen Ideen nachgelassen, die jeder nach seiner Art erziehen konnte. Aus allen hatte sich nach und nach das System von Hoffnungen eines Königes gebildet, der sein verfallenes, dienstbares Volk retten, ihm, mehr als seine alten größesten Könige, goldene Zeiten verschaffen und eine neue Einrichtung der Dinge beginnen sollte. Nach der Sprache der Propheten waren diese Aussichten theokratisch; mit gesammelten Kennzeichen eines Messias wurden sie zum lebhaften Ideal ausgebildet und als Brief und Siegel der Nation betrachtet. In Judäa hielt das wachsende Elend des Volkes diese Bilder fest; in andern Ländern, z.B. in Ägypten, wo seit dem Verfall der Monarchie Alexanders viele Juden wohnhaft waren, bildeten sich diese Ideen mehr nach griechischer Weise aus: apokryphische Bücher, die jene Weissagungen neu darstellten, gingen umher; und jetzt war die Zeit da, die diesen Träumereien auf ihrem Gipfel ein Ende machen sollte. Es erschien ein Mann aus dem Volk, dessen Geist, über Hirngespinste irdischer Hoheit erhaben, alle Hoffnungen, Wünsche und Weissagungen der Propheten zur Anlage eines idealischen Reichs vereinigte, das nichts weniger als ein jüdisches Himmelreich sein sollte. Selbst den nahen Umsturz seiner Nation sähe er in diesem hohem Plan voraus und weissagte ihrem prächtigen Tempel, ihrem ganzen zum Aberglauben gewordnen Gottesdienst ein schnelles trauriges Ende. Unter alle Völker sollte das Reich Gottes kommen, und das Volk, das solches eigentümlich zu besitzen glaubte, wurde von ihm als ein verlebter Leichnam betrachtet.

Welche umfassende Stärke der Seele dazu gehört habe, im damaligen Judäa etwas der Art anzuerkennen und vorzutragen, ist aus der unfreundlichen Aufnahme sichtbar, die diese Lehre bei den Obern und Weisen des Volks fand: man sähe sie als einen Aufruhr gegen Gott und Moses, als ein Verbrechen der beleidigten Nation an, deren gesamte Hoffnungen sie unpatriotisch zerstörte. Auch den Aposteln war der Exjudaismus des Christentums die schwerste Lehre, und sie den christlichen Juden, selbst außerhalb Judäa, begreiflich zu machen, hatte der gelehrteste der Apostel, Paulus, alle Deutungen jüdischer Dialektik nötig. Gut, daß die Vorsehung selbst den Ausschlag gab und daß mit dem Untergange Judäas die alten Mauern gestürzt wurden, durch welche sich mit unverweichlicher Härte dies sogenannte einzige Volk Gottes von allen Völkern der Erde schied. Die Zeit der einzelnen Nationalgottesdienste voll Stolzes und Aberglaubens war vorüber; denn so notwendig dergleichen Einrichtungen in altern Zeiten gewesen sein mochten, als jede Nation, in einem engen Familienkreise erzogen, gleich einer vollen Traube auf ihrer eignen Staude wuchs, so war doch, seit Jahrhunderten schon, in diesem Erdstrich fast alle menschliche Bemühung dahin gegangen, durch Kriege, Handel, Künste, Wissenschaften und Umgang die Völker zu knüpfen und die Früchte eines Jeden zu einem gemeinsamen Trank zu keltern. Vorurteile der Nationalreligionen standen dieser Vereinigung am meisten im Wege; da nun, beim allgemeinen Duldungsgeist der Römer in ihrem weiten Reich und bei der allenthalben verbreiteten eklektischen Philosophie (dieser sonderbaren Vermischung aller Schulen und Sekten), jetzt noch ein Volksglaube hervortrat, der alle Völker zu einem Volk machte und gerade aus der hartsinnigen Nation kam, welche sich sonst für die erste und einzige unter allen Nationen gehalten hatte, so war dies allerdings ein großer, zugleich auch ein gefährlicher Schritt in der Geschichte der Menschheit, je nachdem er getan wurde. Er machte alle Völker zu Brüdern, indem er sie einen Gott und Heiland kennen lehrte; er konnte sie aber auch zu Sklaven machen, sobald er ihnen diese Religion als Joch und Kette aufdrang. Die Schlüssel des Himmelreichs für diese und jene Welt konnten in den Händen anderer Nationen ein gefährlicherer Pharisäismus werden, als sie es in den Händen der Juden je gewesen waren.

 Am meisten trug zur schnellen und starken Wurzelung des Christentums ein Glaube bei, der sich vom Stifter der Religion selbst herschrieb; es war die Meinung von seiner baldigen Rückkunft und der Offenbarung seines Reichs auf Erden. Jesus hatte mit diesem Glauben vor seinem Richter gestanden und ihn in den letzten Tagen seines Lebens oft wiederholt; an ihn hielten sich seine Bekenner und hofften auf die Erscheinung seines Reiches. Geistige Christen dachten sich daran ein geistiges, fleischliche ein fleischliches Reich, und da die hochgespannte Einbildungskraft jener Gegenden und Zeiten nicht eben übersinnlich idealisierte, so entstanden jüdisch-christliche Apokalypsen, voll von mancherlei Weissagungen, Kennzeichen und Träumen. Erst sollte der Antichrist gestürzt werden, und als Christus wiederzukommen säumte, sollte jener sich erst offenbaren, sodann zunehmen und in seinen Greueln aufs höchste wachsen, bis die Errettung einbräche und der Wiederkommende sein Volk erquickte. Es ist nicht zu leugnen, daß Hoffnungen dieser Art zu mancher Verfolgung der ersten Christen Anlaß geben mußten; denn der Weltbeherrscherin Rom konnte es unmöglich gleichgültig sein, daß dergleichen Meinungen von ihrem nahen Untergange, von ihrer antichristisch-abscheulichen oder verachtenswerten Gestalt geglaubt wurden. Bald also wurden solche Propheten als unpatriotische Vaterlandes- und Weltverächter, ja als des allgemeinen Menschenhasses überführte Verbrecher betrachtet, und mancher, der den Wiederkommenden nicht erwarten konnte, lief selbst dem Märtyrertum entgegen. Indessen ist's ebenso gewiß, daß diese Hoffnung eines nahen Reiches Christi im Himmel oder auf Erden die Gemüter stark aneinander band und von der Welt abschloß. Sie verachteten diese als eine, die im argen liegt, und sahen, was ihnen so nahe war, schon vor und um sich. Dies stärkte ihren Mut, das zu überwinden, was niemand sonst überwinden konnte, den Geist der Zeit, die Macht der Verfolger, den Spott der Ungläubigen; sie weilten als Fremdlinge hier und lebten da, wohin ihr Führer vorangegangen war und von dannen er sich bald offenbaren würde.

 


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