XV.3. Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet

 

 Die Geschichte einzelner Wissenschaften und Nationen hat diese Maxima zu berechnen, und ich wünschte, daß wir nur über die berühmtesten Völker in den bekanntesten Zeiten eine solche Geschichte besäßen; jetzt reden wir nur von der Menschengeschichte überhaupt und vom Beharrungszustande derselben in jeder Form unter jedem Klima. Dieser ist nichts als Humanität, d. i. Vernunft und Billigkeit in allen Klassen, in allen Geschäften der Menschen. Und zwar ist er dies nicht durch die Willkür eines Beherrschers oder durch die überredende Macht der Tradition, sondern durch Naturgesetze, auf welchen das Wesen des Menschengeschlechts ruht. Auch seine verdorbensten Einrichtungen rufen uns zu: »Hätten sich unter uns nicht noch Schimmer von Vernunft und Billigkeit erhalten, so wären wir längst nicht mehr, ja, wir wären nie entstanden.« Da von diesem Punkt das ganze Gewebe der Menschengeschichte ausgeht, so müssen wir unsern Blick sorgfältig darauf richten.

 Zuerst. Was ist's, das wir bei allen menschlichen Werken schätzen und wornach wir fragen? Vernunft, Plan und Absicht. Fehlt diese, so ist nichts Menschliches getan; es ist eine blinde Macht bewiesen. Wohin unser Verstand im weiten Felde der Geschichte schweift, sucht er nur sich und findet sich selbst wieder. Je mehr er bei allen seinen Unternehmungen auf reine Wahrheit und Menschengüte traf, desto daurender, nützlicher und schöner wurden seine Werke, desto mehr begegnen sich in ihren Regeln die Geister und Herzen aller Völker in allen Zeiten. Was reiner Verstand und billige Moral ist, darüber sind Sokrates und Konfuzius, Zoroaster, Plato und Cicero einig: trotz ihrer tausendfachen Unterschiede haben sie alle auf einen Punkt gewirkt, auf dem unser ganzes Geschlecht ruht. Wie nun der Wanderer kein süßeres Vergnügen hat, als wenn er allenthalben, auch wo er's nicht vermutete, Spuren eines ihm ähnlichen, denkenden, empfindenden Genius gewahr wird, so entzückend ist uns in der Geschichte unseres Geschlechts die Echo aller Zeiten und Völker, die in den edelsten Seelen nichts als Menschengüte und Menschenwahrheit tönet. Wie meine Vernunft den Zusammenhang der Dinge sucht und mein Herz sich freut, wenn sie solchen gewahr wird, so hat ihn jeder Rechtschaffene gesucht und ihn, im Gesichtspunkt seiner Lage, nur vielleicht anders als ich gesehen, nur anders als ich bezeichnet. Wo er irrte, irrte er für sich und mich, indem er mich vor einem ähnlichen Fehler warnet. Wo er mich zurechtweist, belehrt, erquickt, ermuntert, da ist er mein Bruder, Teilnehmer an derselben Weltseele, der einen Menschenvernunft, der einen Menschenwahrheit.

 Zweitens. Wie in der ganzen Geschichte es keinen fröhlichem Anblick gibt, als einen verständigen, guten Mann zu finden, der ein solcher, trotz aller Veränderungen des Glückes, in jedem seiner Lebensalter, in jedem seiner Werke bleibt, so wird unser Bedauren tausendfach erregt, wenn wir auch bei großen und guten Menschen Verirrungen ihrer Vernunft wahrnehmen, die nach Gesetzen der Natur ihnen nicht anders als übeln Lohn bringen konnten. Nur zu häufig findet man diese gefallenen Engel in der Menschengeschichte und beklagt die Schwachheit der Form, die unserer Menschenvernunft zum Werkzeug dienet. Wie wenig kann ein Sterblicher ertragen, ohne niedergebeugt, wie wenig Außerordentlichem begegnen, ohne von seinem Wege abgelenkt zu werden! Diesem war eine kleine Ehre, der Schimmer eines Glücks oder ein unerwarteter Umstand im Leben schon Irrlichtes genug, ihn in Sümpfe und Abgründe zu führen; jener konnte sich selbst nicht fassen; er überspannte sich und sank ohnmächtig nieder. Ein mitleidiges Gefühl bemächtigt sich unser, wenn wir dergleichen Unglücklich- Glückliche jetzt auf der Wegscheide ihres Schicksals sehen und bemerken, daß sie, um fernerhin vernünftig, billig und glücklich sein zu können, den Mangel der Kraft selbst in sich fühlen. Die ergreifende Furie ist hinter ihnen und stürzt sie wider Willen über die Linie der Mäßigung hinweg; jetzt sind sie in der Hand derselben und büßen zeitlebens vielleicht die Folgen einer kleinen Unvernunft und Torheit. Oder wenn sie das Glück zu sehr erhob und sie sich jetzt auf der höchsten Stufe desselben fühlen: was steht ihrem ahnenden Geist bevor als die Wankelmut dieser treulosen Göttin, mithin selbst aus der Saat ihrer glücklichen Unternehmungen ein keimendes Unglück? Vergebens wendest du dein Antlitz, mitleidiger Cäsar, da dir das Haupt deines erschlagenen Feindes Pompejus gebracht wird, und bauest der Nemesis einen Tempel. Du bist über die Grenze des Glückes wie über den Rubikon hinaus, die Göttin ist hinter dir, und dein blutiger Leib wird an der Bildsäule desselben Pompejus zu Boden sinken. Nicht anders ist's mit der Einrichtung ganzer Länder, weil sie immer doch nur von der Vernunft oder Unvernunft einiger wenigen abhangen, die ihre Gebieter sind oder heißen. Die schönste Anlage, die auf Jahrhunderte hin der Menschheit die nützlichsten Früchte versprach, wird oft durch den Unverstand eines einzigen zerrüttet, der, statt Äste zu beugen, den Baum fällt. Wie einzelne Menschen, so konnten auch ganze Reiche am wenigsten ihr Glück ertragen, es mochten Monarchen und Despoten oder Senat und Volk sie regieren. Das Volk und der Despot verstehen am wenigsten der Schicksalsgöttin warnenden Wink; vom Schall des Namens und vom Glanz eines eitlen Ruhms geblendet, stürzen sie hinaus über die Grenzen der Humanität und Klugheit, bis sie zu spät die Folgen ihrer Unvernunft wahrnehmen. Dies war das Schicksal Roms, Athens und mehrerer Völker, gleichergestalt das Schicksal Alexanders und der meisten Eroberer, die die Welt beunruhigt haben; denn Ungerechtigkeit verderbt alle Länder und Unverstand alle Geschäfte der Menschen. Sie sind die Furien des Schicksals; das Unglück ist nur ihre jüngere Schwester, die dritte Gespielin eines fürchterlichen Bundes.

 Großer Vater der Menschen, welche leichte und schwere Lektion gabst du deinem Geschlecht auf Erden zu seinem ganzen Tagewerk auf! Nur Vernunft und Billigkeit sollen sie lernen; üben sie dieselbe, so kommt von Schritt zu Schritt Licht in ihre Seele, Güte in ihr Herz, Vollkommenheit in ihren Staat, Glückseligkeit in ihr Leben. Mit diesen Gaben beschenkt und solche treu anwendend, kann der Neger seine Gesellschaft einrichten wie der Grieche, der Troglodyt wie der Sinese. Die Erfahrung wird jeden weiterführen und die Vernunft sowohl als die Billigkeit seinen Geschäften Bestand, Schönheit und Ebenmaß geben. Verlässet er sie aber, die wesentlichen Führerinnen seines Lebens, was ist's, das seinem Glück Dauer geben und ihn den Rachgöttinnen der Inhumanität entziehen möge?

Drittens. Zugleich ergibt sich's, daß, wo in der Menschheit das Ebenmaß der Vernunft und Humanität gestört worden, die Rückkehr zu demselben selten anders als durch gewaltsame Schwingungen von einem Äußersten zum andern geschehen werde. Eine Leidenschaft hob das Gleichgewicht der Vernunft auf, eine andere stürmt ihr entgegen, und so gehen in der Geschichte oft Jahre und Jahrhunderte hin, bis wiederum ruhige Tage werden. So hob Alexander das Gleichgewicht eines großen Weltstrichs auf, und lange noch nach seinem Tode stürmten die Winde. So nahm Rom der Welt auf mehr als ein Jahrtausend den Frieden, und eine halbe Welt wilder Völker wurde zur langsamen Wiederherstellung des Gleichgewichts erfodert. An den ruhigen Gang einer Asymptote war bei diesen Länder- und Völkererschütterungen gewiß nicht zu gedenken. Überhaupt zeigt der ganze Gang der Kultur auf unserer Erde mit seinen abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln fast nie einen sanften Strom, sondern vielmehr den Sturz eines Waldwassers von den Gebirgen; dazu machen ihn insonderheit die Leidenschaften der Menschen. Offenbar ist es auch, daß die ganze Zusammenordnung unseres Geschlechts auf dergleichen wechselnde Schwingungen eingerichtet und berechnet worden. Wie unser Gang ein beständiges Fallen ist zur Rechten und zur Linken, und dennoch kommen wir mit jedem Schritt weiter, so ist der Fortschritt der Kultur in Menschengeschlechtern und ganzen Völkern. Einzeln versuchen wir oft beiderlei Extreme, bis wir zur ruhigen Mitte gelangen, wie der Pendul zu beiden Seiten hinausschlägt. In steter Abwechselung erneuen sich die Geschlechter, und trotz aller Linearvorschriften der Tradition schreibt der Sohn dennoch auf seine Weise weiter. Beflissentlich unterschied sich Aristoteles von Plato, Epikur von Zeno, bis die ruhigere Nachwelt endlich beide Extreme unparteiisch nutzen konnte. So geht, wie in der Maschine unseres Körpers, durch einen notwendigen Antagonismus das Werk der Zeiten zum Besten des Menschengeschlechts fort und erhält desselben daurende Gesundheit. In welchen Abweichungen und Winkeln aber auch der Strom der Menschenvernunft sich fortwinden und brechen möge: er entsprang aus dem ewigen Strome der Wahrheit und kann sich kraft seiner Natur auf seinem Wege nie verlieren. Wer aus ihm schöpft, schöpft Dauer und Leben.

 Übrigens beruht sowohl die Vernunft als die Billigkeit auf ein und demselben Naturgesetz, aus welchem auch der Bestand unseres Wesens folgt. Die Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der Dinge, daß sie solche zum daurenden Ebenmaß ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts gegeneinanderstrebender Kräfte, auf dessen Harmonie der ganze Weltbau ruht. Ein und dasselbe Gesetz also erstreckt sich von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung; was alle Wesen und ihre Systeme erhält, ist nur eins: Verhältnis ihrer Kräfte zur periodischen Ruhe und Ordnung.

 


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